Frömmigkeit ohne Glauben
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Sein Leben lang hat Thomas Mann aufmerksame Distanz zur Religion gehalten, sich aber niemals ausdrücklich von ihr abgewandt oder sie gar dezidiert bekämpft. Religiöse Anspielungen, Zitate und Vorstellungsinhalte finden sich im erzählenden und essayistischen Werk, in den Briefen und Tagebüchern. Diese Studie arbeitet das Diskursfeld Religion in den bis 1918 entstandenen Essays erstmals umfassend auf und dokumentiert es. Anders als ältere Arbeiten stellt sie nicht theologische, konfessionelle oder motivliche Fragestellungen in den Vordergrund, sondern verfolgt einen neuartigen, eher religionswissenschaftlichen Ansatz, indem sie die religiösen Funktionen von Begrifflichkeiten, Vorstellungsweisen und Sprachbildern untersucht. Dabei ermöglicht es die Kategorie der Säkularisierung, Wandlungsprozesse des Religiösen systematisch zu erfassen, zu beschreiben und funktional einzuordnen. Für Thomas Mann wird die Dimension des Religiösen weder durch die klassische Religionskritik noch durch den eigenen inneren Wandel bedroht. Stattdessen scheint sie gerade in ihrem vermeintlichen Schwinden einen dialektischen Zustrom neuer, hochindividueller Wirksamkeit zu erfahren. „Frömmigkeit ohne Glauben“ – nach dem programmatischen Titel einer 1895 geplanten Novelle – erklärt sich in genau diesem Sinne als tastende Positionsbestimmung eines religiösen Skeptikers. Das Panorama der frühen Mann'schen Essays öffnet den Blick auf eine unkonventionelle Religiosität, in der sich neben Anlass, Tag und Stunde stets auch die Selbstreflexion des Autors in seinen menschlichen und künstlerischen Bezügen abbildet.