Polyphonien der Vernunft – zur Konstruktion und Dekonstruktion von Aufklärung in französischen und deutschen Briefromanen des 18. Jahrhunderts
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Die letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts werden häufig mit einer Krise aufklärerischen Denkens assoziiert, zugleich als Beginn einer Selbstbefragung der Aufklärung gesehen. Hier setzt die Untersuchung an und geht der Frage nach, welchen Beitrag Literatur zu dieser Binnenreflexion leistet, wobei exemplarisch polyphone Briefromane als Vertreter einer im 18. Jahrhundert populären literarischen Gattung in den Blick genommen werden. Aufgrund ihrer spezifischen Erzählsituation - es fehlt bekanntlich in der Regel eine zuverlässige Erzählinstanz - erscheinen gerade mehrstimmige Briefromane prädestiniert dafür, Verunsicherung zu dokumentieren wie zu erzeugen. Die Studie spürt einer solchen Verunsicherung innerhalb der Texte nach; untersucht werden dabei zum einen die Handhabung und Funktion bestimmter zeittypischer Schlüsselbegriffe (etwa Vernunft, Empfindsamkeit, Tugend, Glück), zum anderen Konfliktkonstellationen und fiktionsintern angebotene Konfliktlösungen: Hat der Roman ein Happy End? Wenn ja, ergibt sich dieses folgerichtig aus den Handlungsparametern oder ist es vielmehr einem Coup de théâtre geschuldet? Wird dem Leser gar ein katastrophales Dénouement zugemutet - und lässt ein solches Rückschlüsse auf ein schwindendes Vertrauen in das aufklärerische Glücksversprechen zu? Ein Schwerpunkt der Textanalysen liegt in diesem Zusammenhang auf Ausschluss- und Abgrenzungsverfahren 'vernünftiger' gegenüber als 'irrational' etikettierten Seinsbereichen - Mechanismen, die die Handlungsstruktur etlicher Briefromane bestimmen. Diese thematisieren mithin explizit oder implizit auch die selbstherrliche oder, wie Adorno und Horkheimer formuliert haben, totalitäre Dimension des Aufklärungsdiskurses und wirken gerade auf diese Weise an einer Selbstaufklärung der Aufklärung mit. Die Untersuchung liefert mittels ihres Interesses an Konstruktion und Dekonstruktion von Aufklärung Erkenntnisse über die spezifischen narrativen Gestaltungsmöglichkeiten des polyphonen Briefromans, insbesondere in Bezug auf Sinnstiftung oder die Verweigerung eben dieser. Sie lenkt umgekehrt anhand des literarischen Genres den Blick auf Befindlichkeiten und drängende Fragen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, indem sie den Briefroman zugleich als ein Symptom und einen Entstehungsort um sich greifender Instabilität begreift; einer Aufklärung also, deren aufklärerischer Charakter gerade im Verlust ihrer Selbstgewissheit zu liegen scheint. Durch die Analyse sowohl französischer als auch deutscher Texte wird die übernationale Gültigkeit zeittypischer Denkmuster und Problemkonstellationen erkennbar; dies umso mehr, als neben literaturwissenschaftlich kanonisierten Briefromanen (z. B. Laclos' Liaisons dangereuses und Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim) auch solche Texte im Mittelpunkt stehen, die in ihrer Zeit viel gelesen, in der Forschung aber bisher nur wenig beachtet wurden (z. B. die Romane Claude Joseph Dorats).