Das anatolische Dilemma
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Die Verweltlichung der europäischen Gesellschaften war ein entscheidender Bestandteil des Durchbruchs in die Moderne. Obwohl in der Tendenz universal, war die Säkularisierung ein kulturspezifischer Vorgang, ein Ergebnis der abendländischen, vom Christentum geprägten Geschichte. In deren Verlauf setzten sich Religionsfreiheit und weitere bürgerliche Freiheiten, schliesslich die Menschenrechte und eine allgemeine Rechenschaftspflicht durch. Im Zuge ihrer Modernisierung sehen sich auch nichtchristliche Gesellschaften genötigt, diese Bewegung nachzuvollziehen. Als Kern der Säkularisierung wird in diesem Buch der Legitimationsverlust autoritärer Machtformen betrachtet. Es wird gezeigt, wie die moderne türkische Gesellschaft zwar auf ein säkularistisches Gesellschaftsprojekt, den Kemalismus, verpflichtet wurde, dieser jedoch eine autoritäre Modernisierung verfolgte. So beginnt die Geburt der neuen Gesellschaft mit einem Paradox, das bis heute nicht aufgelöst ist: Der Kemalismus wurde in der Gestalt eines autoritären und unitarischen, modernisierungsbereiten säkularistischen Nationalstaates institutionalisiert. Dabei wurde keine Trennung von Religion und Politik angestrebt, vielmehr wurde der Islam in der Türkei von der neuen kemalistischen Elite strikt einer ideologisch hochgerüsteten Staatsmacht untergeordnet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das kemalistische Projekt durch die Demokratisierung, die trotz aller Rückschläge und Widerstände in der Türkei stattgefunden hat, etwas modifiziert worden. Die nationalistischen und säkularistischen Bestandteile des Projekts blieben aber verbindlich. Der politische Wettbewerb bewirkte jedoch, bei aller offiziellen Verpflichtung auf Modernismus und Säkularismus, weitreichende Konzessionen an religiöse und traditionalistische Kreise. Zur Entschärfung dieses Widerspruchs wurde die nationalistische Komponente zunehmend zum Angelpunkt einer rigiden offiziellen Ideologie. Darum müssen heute die Folgen des spezifisch türkischen Weges der Säkularisierung, nämlich eine sakralisierte Nation und ein autoritärer Staat, als Hindernisse für eine substantielle Säkularisierung betrachtet werden. Die Religion in islamistischer Gestalt stellt dabei einen zusätzlich komplizierenden Faktor von erheblicher politischer Brisanz dar. Die vorliegende Arbeit erschliesst die türkische Problemlage historisch und ethnographisch im grösseren Rahmen türkischer Gesellschaft und Kultur und in ihren lokalen Brechungen. Sie basiert auf einer mehrjährigen Feldforschung in der westanatolischen Provinzhauptstadt Aydžn. Die Perspektive, aus der die Problematik angegangen wird, unterläuft die besonders im islamischen Kontext aufdringliche und oft verzerrende Gegenüberstellung von 'fortschrittlicher' Weltlichkeit und 'reaktionärer' Religiosität.