Über die Reformpädagogik wird heute wieder kontrovers diskutiert. Dabei wird zumeist nicht klar genug zwischen der Reformpädagogik als geschichtlich vergangener Gestalt und den reformpädagogischen Initiativen der Gegenwart unterschieden. Das Handbuch erweitert die Perspektive. Es geht davon aus, dass reformpädagogisches Denken sich auch als ein historisch entgrenzter Diskurs über alternative Normen und Formen von Schule, Unterricht und Erziehung begreifen lässt. Inzwischen sind reformpädagogische Orientierungen und Praxen in vielfältigen Innovationskontexten auch neuartige Synthesen eingegangen – in privaten und in öffentlichen Schulen. Diese »Reformpädagogisierungen« stellen interessante Felder aktueller Schulforschung dar. In diesem Handbuch präsentieren Expert/innen Beiträge zur »klassischen Reformpädagogik«, zu ihrer Rezeption und Transformation in den letzten Jahrzehnten und zur Expansion reformpädagogischer Konzepte und Methoden in innovativen Schul- und Lernkulturen der Gegenwart.
Till Sebastian Idel Knihy




Die Sekundarschulreform verändert das deutsche Schulsystem, produziert auf dem Weg zur Zweigliedrigkeit ein großes Maß struktureller Uneinheitlichkeit und begründet gleichzeitig Herausforderungen für die Lehrerinnen- und Lehrerprofession. Der Band nimmt die vielfältigen Erscheinungsformen der Reform empirisch fundiert und aus professionstheoretischer Perspektive in den Blick, gibt Einblicke in den Umgang der Professionellen mit den daraus resultierenden Veränderungsanforderungen und diskutiert die diesbezügliche Entwicklungen und Problemlagen. Die Autorinnen und Autoren thematisieren die Konsequenzen des Wandels für die Profession, die Entwicklung pädagogischer Professionalität und das Verhältnis von Schulstruktur und Struktur der Lehrerinnen- bzw. Lehrerausbildung. Entsprechend wird ein Bogen gespannt von historischen und systematischen Beiträgen über empirische Beiträge aus dem Kontext der in Rede stehenden bildungspolitischen Reformvorhaben bis hin zu querliegenden professionstheoretischen Einschätzungen.
Die Analyse eines schülerbiografischen Interviews zeichnet den Werdegang einer Schülerin im Waldorf-Schulsystem nach und bietet Einblicke in einen reformpädagogischen Ansatz als Alternative zur Staatsschule. Die Untersuchung des Interviews, das nach der Schullaufbahn von Franziska geführt wurde, umfasst wesentliche biografische Erfahrungsräume wie Familie, Schule, Freizeit und Peers. Franziskas Schulbiografie offenbart die spezifischen pädagogischen Ansätze und die Entwicklungsrelevanz der Waldorfpädagogik, die als das erfolgreichste Modell der klassischen Reformpädagogik gilt. Für die Lehre ist die Fallanalyse in drei Bereichen besonders relevant: Erstens wird die Schule als Instanz der biografischen Sozialisation betrachtet. Zweitens wird ein Gegenentwurf zur etablierten Staatsschule thematisiert, der auf die Ursprünge der klassischen Reformpädagogik zurückgeht. Drittens bietet der Fall eine empirisch fundierte Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik. Der Inhalt umfasst die Einleitung, die Kindheit Franziskas, ihren Übergang in den Kindergarten und die Schule, die Konstruktion ihrer Rolle als ideale Schülerin, ihre Jugendbiografie, die Identitätsarbeit während der Adoleszenz sowie ihre Aneignung der Anthroposophie und die Entwicklung nach dem Abitur.
Die Freien Waldorfschulen stellen heute in Deutschland die erfolgreichste Variante nichtstaatlicher Reform- und Alternativschulen mit besonderer pädagogischer Prägung dar. Im Vergleich zu anderen Reform- und Alternativschulen sind die Waldorfschulen nach wie vor empirisch nur wenig erforscht. Anhand von sequenzanalytischen Rekonstruktionen der retrospektiven Erzählungen sowie ausgewählter Berichtszeugnisse dreier ehemaliger Waldorfschüler/innen wird der Versuch unternommen, den Erfahrungsgehalt des in der Schule Erlebten und die Relevanz der Waldorfschule im Rahmen der Gesamtbiographie zu bestimmen. In der (schul-)theoretischen Abstraktion der drei Fallstudien werden schließlich Entgrenzungsdimensionen der anthroposophischen Schulkultur identifiziert und auf ihre biographischen Chancen- und Risikopotenziale hin befragt.