Friedrich Chrysander
Musikwissenschaftler der ersten Stunde
Musikwissenschaftler der ersten Stunde
Franz Schuberts Musik hat auch zwei Jahrhunderte nach der Entstehung nichts von ihrer Faszination eingebüßt. In seinem ebenso umfangreichen wie vielschichtigen Schaffen, das sämtliche musikalischen Gattungen bedient, konzentriert sich gleichsam die Gedankenwelt des frühen 19. Jahrhunderts. Die prekäre biographische und ästhetische Situation, in der sich Schubert zeitlebens befand, zieht sich hintergründig durch die Musik – und dies für jede Werkgruppe mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Diese Eigenheiten aufzuspüren, haben sich die Autorinnen und Autoren des Bandes zur Aufgabe gemacht. Notwendigerweise ergibt sich aus der Fragestellung eine Auseinandersetzung mit dem ganzen Werkkatalog, was mit einer gleichzeitigen Fokussierung auf repräsentative Fallbeispiele geleistet wird. Seitenblicke gelten außerdem der spektakulären Rezeption. Der Band vereint Beiträge einiger der führenden Vertreter der Schubert-Forschung, die sie Hans-Joachim Hinrichsen zu seinem 60. Geburtstag widmen, und bietet aufgrund seiner thematischen Breite einen Überblick über den Forschungsstand sowie neueste Ansätze in der Auseinandersetzung mit einem der prägendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts.
Im Tanz fand der Auftritt des Höflings zu seiner ästhetischen Idealisierung. Der enge Rahmen des Schicklichen bedingte eine Ordnung der Schritte, die letztlich nur mit musikalischen Mitteln zu erreichen war. Dadurch gewann Instrumentalmusik eine ganz neue Wertigkeit: Sie war nicht nur Untermalung des gesellschaftlichen Idealzustandes, sondern dessen klingender Ausdruck. Diese prestigeträchtige Bedeutung ließ die tanzmusikalischen Parameter nach 1700 zur musikalischen Konvention schlechthin avancieren. Ivana Rentsch legt die Zusammenhänge zwischen Verhaltensideal, Tanz und Instrumentalmusik des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts dar und diskutiert die kulturanthropologischen Wurzeln der wichtigsten Kriterien musikalischer Formbildung: Takt, Kadenz und Periodik. Die Autorin Ivana Rentsch studierte Musikwissenschaft, Publizistik und Linguistik an der Universität Zürich. 2005 erhielt sie ein Forschungsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds an den Universitäten Graz und Salzburg für das Projekt „Der Tanz in der Partitur“. Seit 2006 ist sie (Ober-)Assistentin am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich.
Als „beste“ Filmmusik gilt oft jene, die unbewusst bleibt, doch sie intensiviert die Handlung und eröffnet neue Bedeutungsebenen. „Ton-Spuren aus der Alten Welt“ rückt das unbewusst Bekannte ins Zentrum und beleuchtet die europäische Filmmusik bis 1945, ein bisher wenig erkundetes Terrain. Während das Forschungsinteresse häufig auf Hollywoods „goldene Ära“ ab den 1930er Jahren fokussiert ist, bleiben die „Ton-Spuren“ der Alten Welt oft im Schatten. Die Lücken in der Filmmusik-Forschung werden besonders deutlich, wenn man über das Kino der Weimarer Republik und den nationalsozialistischen Propagandafilm hinausblickt. Die zentrale Frage ist, ob sich in den europäischen Filmindustrien bis 1945 verschiedene „nationale“ Traditionen entwickelten oder ob das musikalische Vokabular als „gesamteuropäisch“ betrachtet werden kann. Das Buch behandelt die Filmmusik-Traditionen einzelner europäischer Länder anhand ausgewählter Beispiele, darunter Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion. Ergänzt werden die Fallstudien durch systematische Beiträge zu Theorie und Ästhetik der Filmmusik sowie zu Fragen ihrer heutigen Rekonstruktion.
Musikgeschichte darzustellen, das bedeutete bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vor allem eine Kategorisierung der Phänomene nach in sich hermetisch abgeschlossenen Ordnungssystemen, als deren wirkungsmächtigstes wohl das Prinzip streng national definierter Traditionen gelten kann. Weitaus weniger in den Blick genommen wurde hingegen das Moment des Austauschs, des Dialogs, sei es zwischen verschiedenen Nationen und Kulturen oder auch über die Schranken (und Beschränkungen) einzelner Epochen hinweg. So aufgefasst, erscheint Geschichte nicht als eine lineare, gar kausal oder teleologisch gedachte Entwicklung, sondern vielmehr als ein Resonanzraum, in dem Vergangenes mit Heutigem zusammenhängt und manches, was weit voneinander entfernt liegt, plötzlich eine erstaunliche Nähe offenbaren kann. Diese „Vernetzungen“ sowie die vielfältige Wechselwirkung der Musik mit den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingen aufzuspüren – darin liegt das Ziel des Bandes, der 20 Beiträge zu verschiedensten Themen einer übergreifenden Kulturgeschichte vereint.
Als Enkel eines einflußreichen Rabbiners in Lemberg geboren, Opernkomponist in Leipzig, Filmkomponist in Berlin und schließlich Exilant in Ascona – alle Lebensstationen von Max Ettinger (1874-1951) tragen den Stempel historischer Ereignisse. Vielversprechend hatte seine Karriere in den 1920er Jahren mit den Leipziger Uraufführungen der Opern Clavigo und Frühlings Erwachen begonnen, und selbst nach der Weltwirtschaftskrise schien sich in Berlin eine hoffnungsvolle Perspektive beim Film zu eröffnen. Vergebens: 1933 blieb für Ettinger nur noch der Weg nach Ascona in ein beruflich aussichtsloses Exil. Max Ettingers Œuvre für die Gegenwart neu zu erschließen – dies ist das Ziel der vorliegenden Publikation. Im Mittelpunkt steht ein Werkverzeichnis, das neben Datierungen und Besetzungsangaben vor allem die Quellenlage der einzelnen Kompositionen in den Blick nimmt. Und um einen charakteristischen Eindruck von der ästhetischen Position Ettingers zu vermitteln, enthält der Band eine Auswahl aus dessen eigenen Texten zu Oper, Film und ‘jüdischer’ Musik sowie einen einführenden Kommentar.
Die Opern, die Bohuslav Martinu in den 1920er und 30er Jahren schuf, waren durch das vermeintliche Paradoxon eines avantgardistischen , Klassizismus‘ geprägt. Aus der Überzeugung heraus, daß jede Zeit ihrer eigenen Tonsprache bedürfe, verweigerte sich der Komponist historischen Modellen und verfolgte die Abkehr vom Musikdrama durch die Arbeit mit Textbüchern, die ausnahmslos der damaligen Theateravantgarde entsprangen. Die Geisteshaltung der betreffenden Vorlagen erfüllte in idealer Weise Martinus Ziel einer „Entdramatisierung und Desentimentalisierung der Bühne“ – und damit die ins Musiktheater übersetzte Forderung nach objektivem Ausdruck anstelle jenes gefühlsorientierten „Subjektivismus“, der seit dem Ersten Weltkrieg suspekt geworden war. Am Beispiel der in Paris entstandenen Opern Les trois souhaits ou Les vicissitudes de la vie, Hry o Marii (Marienspiele) und Juliette. Snár (Juliette. Das Traumbuch) wird dargelegt, wie sich Dadaismus, Poetismus und Surrealismus mit Zeitoper, Mysterienspiel und lyrischem Singspiel zu Martinus , klassizistischem‘ Musiktheater der Zwischenkriegszeit verbinden.
Der berühmteste Physiker des 20. Jahrhunderts, Albert Einstein, war leidenschaftlicher Musiker und stellte die Verbindung zwischen Kunst und Naturwissenschaften in der modernen Gesellschaft in den Mittelpunkt. Er pflegte enge Kontakte zur Musikwelt, korrespondierte mit Komponisten und musizierte mit Künstlern. Immer hatte er eine Geige in der Nähe und spielte bevorzugt Kammermusik, sei es mit Max Planck oder unbekannten Schiffsreisenden. Trotz seiner avantgardistischen Physik konnte er sich mit der musikalischen Avantgarde seiner Zeit nicht anfreunden; Mozart blieb sein Lieblingskomponist, eine Präferenz, die von Schönberg und Weill nicht beeinflusst werden konnte. Über sein Verhältnis zur Musik sprach Einstein selten und betonte deren emotionale Qualität: «Musizieren, lieben – und Maul halten!» Das Buch beleuchtet nicht nur den Widerspruch zwischen Einsteins Neugier als Naturforscher und seiner naiven Haltung als Musikliebhaber, sondern auch seine Beziehungen zum zeitgenössischen Musikleben und die Rezeption des «Mythos Einstein» in der modernen Oper. Es thematisiert den fruchtlosen Briefwechsel mit Schönberg sowie Werke wie «Einstein on the Beach» von Philip Glass. Die Beiträge behandeln Einsteins musikalische Bildung, seine Faszination für Bohuslav Martinu, die Briefe Schönbergs im musikalischen Kontext und die Verbindung von Musik und Wissenschaft.