Hundert Jahre nach den Revolutionen des Jahres 1917 präsentiert Julia Kissina Autoren, die zum antirealistischen Unterstrom der russischen Gegenwartsliteratur gehören. Die Normalität wird aufgekündigt, Traum und Wahn nehmen überhand: Literatur als WUnder der Wahrnehmung. Mit Illustrationen von Julia Kissina und Beiträgen von Polina Barskova, Julia Belomlinskaja, Juri Leiderman, Alexej Parschtschikow, Pavel Pepperstein, Alexander Pjatigorski, Vladimir Sorokin und anderen.
Wie eine junge Frau aus Kiew loszog, in Moskau ihr Glück zu suchen
Von Sehnsucht nach dem freien Künstlerdasein gepackt, folgt die junge Elephantina ihrem Idol in die Katakomben Moskaus. Der rotgesichtige Dichterguru Pomidor, ein Mann in den besten Jahren, prominenter Kopf der Avantgarde, hat sie die »neue Achmatowa« genannt. Vergessen das provinzielle Kiew, die öde Kunstschule. Durch Bahnhöfe, Theatergarderoben und Museen von einer Schlafstatt zur nächsten irrend, findet die nonnenhaft gekleidete Nomadin eine Wohnung, die sie schon bald in eine Künstlerkolonie verwandelt. Dichterabende in überfüllten Studentenklubs mit Spitzeln in den hinteren Reihen, verbotene Kunstaktionen in Moskau und Umgebung, die Begegnung mit Allen Ginsberg, eine Vorladung beim KGB – doch all das ist nur die Kulisse, vor der Elephantina sich nach Pomidor verzehrt.
Eine éducation sentimentale in kräftigen Farben, episodenreich und voller Temperament und Gelächter.
Kiew, späte Breschnewzeit. Julia, ein so verträumtes wie rebellisches Mädchen, wächst im Milieu der bürgerlichen jüdischen Intelligenz heran. Während ihr Vater, der in ständiger Angst lebt, denunziert zu werden, Texte für eine Zirkusrevue schreibt, unterhält sie sich nachts mit den Führern des Weltproletariats. Ein älterer Herr, der sich als Pole ausgibt und Werke über die französische Küche verfasst, zeigt ihr das Anatomische Theater aus zaristischer und weißgardistischer Zeit. Das in Gärten versteckte Gebäude, die Aura des Todes und der materiellen Auflösung ziehen sie magisch an. Hier lauert ein Wissen, der »Lunatismus«, eine im Mondlicht gesteigerte Selbstwahrnehmung, mit dem sie sich den Zumutungen einer bedrängenden Realität entziehen kann. Traurig, wütend, mit visionärer Sprachkraft begabt, beschreibt Julia Kissina ihre sowjetische Kindheit vor dem Hintergrund des physischen und ideellen Zerfalls der Stadt Kiew und ihrer Bewohner. Die Museen und Parkbänke, die verschlungenen Gässchen und Hinterhöfe der Altstadt mit ihrem dahinsiechenden Abendlicht in den schmutzigen Pfützen, bleiben dem Leser unvergesslich.
Julia Kissinas Fotografien sind oft bevölkert von Figuren, die uns unheimlich sind. Körper verformen sich, Kindern wachsen zusätzliche Arme und Beine und ihre „Freaks“ scheinen aus einer anderen Galaxie zu kommen, auch wenn sie aussehen wie Menschen. Jetzt hat die Fotografin direkt vor ihrer Haustür eine weitere Spezies entdeckt. Julia Kissina lässt in ihren Bildern eine Welt entstehen, bei der die gängige Seherfahrung versagt: Es gibt kein oben und unten, Dreidimensionales wird flach, die Schwerkraft schwindet. Wie bei einer Karussellfahrt verliert der Betrachter die Orientierung, der taumelnde Blick aber landet direkt bei den merkwürdigen Figuren, die die Szenerie beherrschen. Die Fotos der Serie „When Shadows Cast People“ hat Julia Kissina in den letzten drei Jahren von ihrem Berliner Balkon aus aufgenommen. Die Verhältnisse kehren sich aus dieser Perspektive um: Die Schatten in ihren Bildern haben sich von den Menschen unabhängig gemacht und führen meist unbemerkt ihr eigenes Schauspiel auf, in dem die Menschen zu Randfiguren werden. Mickey Mouse, Nosferatu, Minotaurus treten darin genau so auf wie ein Serienkiller, ein Bär mit Revolver oder eine mehrstöckige Frau. . und sogar Jimi Hendrix hat sie gesehen. Der kleine leinengebundene und wunderschön gedruckte Band ist ein großes, nachdenklich stimmendes Vergnügen.