Zwei altenglische Rätsel des angelsächsischen Exeterbuches und ihre Lösungen
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Die Untersuchung beleuchtet die Tradition der germanischen Rätsel und analysiert ausgewählte altenglische Rätseldichtungen des siebten Jahrhunderts. Sie zeigt, dass mittelalterliche deutsche Rätsel mit diesen altenglischen Exemplaren eine gemeinsame Quelle teilen, exemplifiziert durch das Weinfassrätsel im Codex Vercellensis. Zudem wird eine Verbindung zu antiken lateinischen Rätseln hergestellt, die bereits im dritten Jahrhundert nach Christus dokumentiert sind, und widerlegt die Annahme, dass diese lateinischen Rätsel die Quelle der alt-germanischen Rätseldichtung sind.
Der mittelalterliche Gelehrte Alkuin von York verdankt seinen Bekanntheitsgrad
in der Neuzeit vor allem, dass er lange Zeit als wichtigster Berater Karls des
Großen galt. Während des Mittelalters war Alkuin dagegen sowohl in England als
auch auf dem Kontinent unbekannt. Erst im 17. Jahrhundert fanden seine
lateinischen Schriften, die er als Studienmaterial für seine Klosterschüler
verfasste, erste öffentliche Beachtung. Im 18. Jahrhundert wurden Alkuins
literarische Ausarbeitung über die Bischöfe, Könige und Heiligen der Kirche
von York und auch seine rund 300 überlieferten Briefe als wahre Begebenheiten
aufgefasst. Alkuins Leben, sein Wirken und seine Zeit wurden aus seinen Werken
abgeleitet. Dass es sich bei seinen Briefen um eigens für den Lateinunterricht
entworfene Mustertexte mit erfundenen Inhalten und imaginären Adressaten
handelte, wurde zu dieser Zeit völlig übersehen. Folglich wurde von dem Autor
und seiner Zeit ein Geschichtsbild entworfen, das unzutreffender und
widersprüchlicher nicht sein könnte.
Renate Laszlo M. A ist durch ihre bedeutsamen Veröffentlichungen über die angelsächsischen Rätsel der Fachwelt des In- und Auslandes bestens bekannt. Nicht weniger beachtlich als ihre linguistischen Arbeiten ist die von ihr verfasste Biographie über den britannischen Heerführer Arthur, in der es gelingt, die historische Identität des großen Feldherrn des fünften Jahrhunderts aufzuzeigen und seinen Lebensweg weitgehend nachzuzeichnen. Schon während ihrer Studienzeit widmet sich die Autorin den alten Formen der germanischen, romanischen und slawischen Sprachen sowie der vergleichenden Sprachwissenschaft, um sich später auf die Sprachvariante zu spezialisieren, die in Britannien seit der Invasion der Angelsachsen Mitte des fünften Jahrhunderts bis zur normannischen Eroberung im Jahre 1066 gesprochen wird und ab der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts auch zur Niederschrift der landessprachlichen Literatur Verwendung findet. Neben ihrer Tätigkeit als Dozentin für Fremdsprachen und der Herausforderung als Ehefrau und Mutter zweier Söhne, arbeitet Renate Laszlo seit Jahrzehnten erfolgreich an der Erforschung der altenglischen Sprache und Literatur. Mit der beeindruckenden Lösung des einundvierzigsten Rätsels des Exeterbuches, dessen Gegenstand zweifelsfrei die Sonne ist, und dem Vergleich mit der von Bischof Aldhelm verfassten lateinischen Übersetzung, gelingt erstmalig eine Bestimmung der Entstehungszeit. Aus vielen Einzelheiten, nicht zuletzt aus dem Titel, den Aldhelm seinem Rätsel gibt, ist ersichtlich, dass der landessprachlichen Fassung Priorität vor der lateinischen Version einzuräumen ist.
Dat genitor genito, quod se non sentit habere nec quaquam in genitore potes cognoscere, lector, quod praebuit firma nascenti pectore proli Diese lateinische Kurzform eines altgermanischen Rätsels stellt Petrus von Pisa 783 am Hof Karls des Großen seinem Landsmann Paulus Diaconus. Das altgermanische Original ist nicht erhalten, aber es existiert noch eine neunundzwanzigzeilige altenglische Fassung in einem Manuskript aus dem zehnten Jahrhundert. Im dreizehnten Jahrhundert taucht das Rätsel unvermutet bei den Sangspruchdichtern in individuell ausgearbeiteten Versionen auf, die so genial verschlüsselt sind, daß die gemeinsame Lösung bis heute nicht gefunden wird. Die in dieser Studie aufgeführten Sänger sind Wizlav, der mit dem gleichnamigen Fürsten von Rügen identisch sein soll, ferner Vriderich von Svnnenburc, Meister Kelin, Heinrich von Meißen, Reinmar von Zweter sowie Meister Singof und sein Kontrahent Rvmelant, außerdem der Marner, Heinrich von Mügeln, Meister Stolle und der Hardegger.
Der heilige Hieronymus berichtet in De viris illustribus von zwei poetischen Dichtungen des Firmianus Lactantius, einem Symposium und einem Hodoeporicon, die als verschollen gelten. Renate Laszlo ist die erste, die erfolgreich nach diesen Gedichten recherchiert. Mit ihrem Talent für das Aufspüren relevanter antiker und frühmittelalterlicher Quellen sowie ihrer Erfahrung im Lösen literarischer Rätsel gelingt es ihr, die kulturhistorischen Zusammenhänge zu entwirren und die anonymen poetischen Dichtungen in lateinischen Handschriften des Mittelalters sowie in modernen Übersetzungen zu identifizieren. Ihre Analyse von Symposium und Hodoeporicon präsentiert sie ebenso überzeugend und widerspruchsfrei wie ihre früheren Lösungen der altenglischen Rätsel des Exeterbuches. Laszlo erlangte bereits 1996 durch die Entdeckung eines germanischen Rätsels über ein mystisches Weinfass in einer Pergamenthandschrift der Kathedralsbibliothek zu Vercelli Bekanntheit. Mit ihrer aktuellen Studie über die poetischen Dichtungen des Lactantius gelingt ihr erneut ein bedeutender Erfolg.
Einen bemerkenswerten Beitrag zur germanischen Rätseltradition liefern die aus der altenglischen Epoche überlieferten Rätsel des Codex Exoniensis und Vercellensis. Das Rätsel über die „Zeit“ ist ein Kleinod altenglischer Lyrik, einmalig in seiner Komposition und dem Ideenreichtum, mit dem der Rätselautor dem Phänomen „Zeit“ beizukommen versucht. Das Gedicht hat in der Literatur auf dem Festland keine Entsprechung mehr, obwohl das Rätsel vor nahezu zweitausend Jahren in Germanien entstanden ist, was aus dem Inhalt, der Sprache und der Struktur deutlich wird. Ein weiteres germanisches Rätselthema ist der „Fisch im Fluss“, von dem ebenfalls nur noch die im Exeterbuch überlieferte Kopie existiert. In der deutschsprachigen Literatur taucht das Rätsel erst zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts auf, allerdings nicht in der germanischen Fassung, sondern als Nachdichtung eines alten lateinischen Rätsels. Ganz anders verhält es sich mit dem Rätsel vom mystischen Weinfass. Neben der im Vercellibuch überlieferten altenglischen, gibt es auch eine deutsche Fassung, die nach jahrhundertelanger mündlicher Tradition in verschiedenen Rätselsammlungen um das Jahr 1500 veröffentlicht wird und mit dem altenglischen Rätsel auf eine universale, germanische Quelle zurückgeht.
Im Laufe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts werden in vier Bibliotheken, drei in England und eine in Italien, Bücher mit altenglischem Schrifttum aus dem ersten Jahrtausend entdeckt. Die in den im zehnten Jahrhundert verfassten Sammelhandschriften enthaltene Dichtung stammt größtenteils aus der frühaltenglischen Zeit, dem siebten oder achten Jahrhundert. Beda berichtet in seiner Kirchengeschichte über den Dichter Caedmon, der als einziger Poet dieser Zeit wunderschöne, alliterierende Verse in seiner Muttersprache verfasste. Trotz einer detaillierten Themenliste, die Beda erstellt, kann bisher nur ein Gedicht Caedmon eindeutig zugeordnet werden: ein neunzeiliger Hymnus auf die Schöpfung, der jedoch nur in einer lateinischen Nachdichtung überliefert ist. Renate Laszlo entdeckt im Codex Exoniensis den Originalhymnus des Poeten, eingebettet in den Prolog eines altenglischen Sonnenrätsels. Dieser Hymnus lässt sich problemlos aus dem Rätsel herauslösen und entspricht genau der Beschreibung, die Beda gibt. Zudem weist Laszlo für mehrere neu entdeckte Rätsel, die aus alliterierenden Langzeilen bestehen, unwiderlegbar Caedmons Autorschaft nach. Ihre Studie wird der Forschung auf diesem Gebiet neue Impulse geben und sie grundlegend neu gestalten.
Im siebten und achten Jahrhundert nach Christus entstanden in neu gegründeten Klöstern Schulen, die nach römischem Vorbild unterrichteten. Der Lehrinhalt orientierte sich an den Dogmen der Kirche sowie den Lehren klassischer Autoren wie Aristoteles. Die Dichtung dieser Zeit zeigt eine Vorliebe für literarische Rätsel. Neben zahlreichen lateinischen Rätselsammlungen, die von bekannten Autoren stammen, existieren etwa hundert anonym überlieferte Rätsel in altenglischer Sprache, hauptsächlich im Codex Exoniensis, einem bedeutenden Manuskript mit muttersprachlicher Lyrik und Epik. Während den lateinischen Änigmata ein Hinweis auf den verrätselten Gegenstand vorangestellt ist, fehlt dieser bei den landessprachlichen Rätseln. In diesem Buch wird die seit rund 150 Jahren gesuchte Lösung des elften Rätsels des Codex Exoniensis erstmals präsentiert. Eine detaillierte Analyse beleuchtet die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem altenglischen Exeterrätsel und einem lateinischen Rätsel von Aldhelm, dem ersten Bischof von Sherborne. Das altenglische Rätsel zur Insektenmetamorphose ist ein einzigartiger Beleg für das Wissen der Germanen über Naturphänomene. Dieses Wissen ging durch die Völkerwanderung und die Christianisierung verloren und musste nach fast tausend Jahren neu entdeckt werden. Die im Rätsel enthaltenen Informationen wurden erst im 17. Jahrhundert durch William Harveys Eitheorie offiziell bestätigt.