Die unbewältigte Sprache
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Hannah Arendt hat kein Buch mit dem Titel Elemente und Ursprünge einer Theorie der Dichtung geschrieben, und dennoch kommt keine ihrer großen Arbeiten zur politischen Theorie wie zur Philosophie ohne den Rekurs auf literarische Texte und auf politische wie philosophische Implikationen poetischer Verfahrensweisen aus. Die unentflechtbare Verwicklung ineinander, des Politischen, der Philosophie und Poesie, ist für Arendt durch die ursprüngliche Sprachlichkeit aller drei Bereiche gegeben. Den Inbegriff der Philosophie, das Denken, kennzeichnet Arendt als Sprechen mit sich selbst, als Zwiesprache und inneren Dialog; und zum Inbegriff oder Milieu der Politik im weitesten Sinne politischen Handelns als Leben in Gemeinschaft, erhebt sie das Gespräch. Welche Sprache aber spricht die Sprache der Dichtung? Wie greift deren Sprache in das sprachliche Handeln des politischen Raumes ein, der durch das Gespräch eröffnet wird; und wie in die philosophische Sphäre der denkenden Zwiesprache des Einzelnen mit sich? In ihrer Lessingpreisrede, 1959, die Thomas Schestag als eine Miniatur ihrer Dichtungstheorie liest, sieht Arendt, im Zusammenhang mit einer Diskussion des Schlagworts von der Vergangenheitsbewältigung, das auszeichnende Merkmal der Dichtung in der Unterbrechung narrativer und hermeneutischer Techniken gelegen, die durch wiederholtes Nacherzählen vergangenes, aber in die Gegenwart ragendes, traumatisierendes Geschehen zum verstandenen Geschehen umzubilden und ab-, ad acta zu legen suchen. Der Vergangenheit, die unbewältigt bleibt, entspricht, so Hannah Arendt, erst eine Dichtung, die nicht bewältigt, nämlich durch Deutung ersetzt werden kann. Der Inbegriff der Dichtung liegt im Vorgang der Verdinglichung des pragmatischen Worts. Dichtung vergrößert am zeigenden, an- und aufweisenden Wort – im Satz –, das den Inbegriff politischen Handelns ausmacht, dessen Dingcharakter: die Angewiesenheit des zeigenden Zeichens auf ein gezeigtes, das die Auslegung zum zeigenden zwar auslöst, aber aufhält und verzweigt. Im Zentrum ihrer Dichtungstheorie ist Hannah Arendt der Frage nach dem Ding – und Wortding – als Lücke im Milieu der Sprache als Perpetuum aus Handlungs- und Verweiszusammenhängen nachgegangen. Deren politische Brisanz liegt darin, dass das Sprachkunstwerk die Unbrauchbarkeit aller Zeichen im Gebrauch vergrößert. Erst die Irruption des Zweck-Nutzen-Schemas in politischen und philosophischen, pragmatischen und Denkzusammenhängen durch den Einbruch der Dichtung, mit andern Worten der unbrauchbaren oder Sprache außer Gebrauch, deutet – im öffentlichen Raum politischen Handelns wie im verwinkelten der Selbstreflexion – die Öffnung dessen an, was Arendt Welt nennt: die Gegenwart nicht als Brücke im Kontinuum geschichtlicher, generativer und genealogischer Verweiszusammenhänge, sondern als Unterbrechung oder Lücke im Aufzug der Sprache als Milieu der Überlieferung.