Ein Heiligtum im Taubertal?
Autoři
Více o knize
Nahe bei Creglingen im württembergischen Franken, auf einem Hügel hoch über dem kleinen Örtchen Standorf, liegt die Ulrichskapelle. Der achteckig angelegte Bau ist nicht nur wegen seiner landschaftlich schönen Lage bemerkenswert, sondern auch, weil er seit der Errichtung in der Stauferzeit nahezu unverändert blieb. Dazu entspringt unterhalb des Kirchleins eine Quelle, deren Wasser nach volkstümlichen Vorstellungen gesund oder hilfreich oder wundertätig sein soll. Stoff für frommes Nachsinnen, für poetische Ausmalungen und romantische Fantasien, auch für eine Prise Aberglauben, liefert die Ulrichskapelle also genug. Aber leider haben nicht nur Poeten und Romantiker sich dieses Stoffes bedient, sondern - wie Michael Raisch in seiner Untersuchung aufzeigt - völkische Ideologen, Protagonisten einer national gesinnten Germanentümelei und neuheidnische Geomanten, bis hin zu den unsäglichen Rassentheoretikern des Nationalsozialismus. Von diesem Klüngel wurde die Ulrichskapelle teilweise ihrer kirchlichen Geschichte beraubt und zu einem angeblich heidnischen Kraftort gemacht. Hinzu kommen nicht völkische, sondern überchristliche Geschichtsfantasien, die eine charmante, aber eben auch kleine und abseits gelegene Kapelle, zu einem Dreh- und Angelpunkt der mittelalterlichen Geschichte machen wollen. Dort sei das Turiner Grabtuch aufbewahrt worden, Kreuzzüge hätten durch das Grabtuch ihren Anfang genommen und ihre Bestimmung erhalten, Massen seien in Wallfahrten auf den grünen Hügel abseits des Taubertals gezogen, Fürsten und Kaiser seien dort gewesen und so weiter. Verwunderlich ist nicht, dass es solche ideologischen Vereinnahmungen, solche Spintisierer und Besserwisser gibt. Es gibt sie immer. Verwunderlich ist, welchen Einfluss sie bis heute auf die Wahrnehmung der Ulrichskapelle haben. Auch das wird von Michael Raisch akribisch nachgezeichnet. Das macht die Kapelle im fränkischen Ländle zu einem lehrreichen Beispiel, wie fahrlässig oft mit der Kirchen- und Zeitgeschichte umgegangen wird, und wie man es nicht machen sollte. Warum halten sich die völkischen und scheinchristlichen Legenden um die Ulrichskapelle so hartnäckig, obwohl sie immer wieder mit aufklärender Absicht kritisiert wurden? Auf diese Frage gibt es mindestens zwei Antworten. Zum einen sind die Ideologien, die früher zur Vereinnahmung der Ulrichskapelle, und der kirchlichen Geschichte schritten, nicht völlig entmachtet. Es gibt die Rassenfanatiker, die neuheidnischen Spintisierer und die Verschwörungstheoretiker immer noch. Eines der bedrückendsten Ergebnisse von Michael Raisch ist, dass diese Kreise selbst nach der Katastrophe von 1945 zwar eilfertig daran gingen, sich vom gescheiterten Dritten Reich zu distanzieren, dem sie vorher gedient hatten. Aber an ihren nationalistischen Heidenträumen hielten sie fest und waren nicht bereit, die geschichtliche Katastrophe, die sie mit verschuldet hatten, als Anfrage an sich selbst zu verstehen. Neuheiden, Geomanten und Esoteriker stehen bis heute - wenn auch sicher nicht durchweg - in dieser unheiligen Tradition. Ihnen entgegen zu treten, ist eine wichtige Aufgabe kirchlicher Aufklärung, und es ist Michael Raisch zu verdanken, dass diese Aufklärung im Fall der Ulrichskapelle eine solide zeitgeschichtliche Grundlage hat. Das vorliegende Werk soll deshalb die Gemeinde Standorf, die Stadt Creglingen und die Region Franken dabei unterstützen, ein Bild der Ulrichskapelle auf einer soliden geschichtlichen Grundlage zu vermitteln, und durch dieses Bild selbst ein Stück ihrer Geschichte zu gewinnen.