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Seit Matthias Claudius wissen wir: „Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.“ Und zwar in Bildern oder Worten! Dieses kleine Buch unternimmt den ehrgeizigen Versuch, zwei derartige Erzählstränge miteinander zu verbinden, ohne sie ihrer Eigenständigkeit zu berauben: Denn die Bilder von Louisa Clement sind ebenso wenig als eine Illustration des Textes von Ulrike Ulrich zu betrachten, wie deren Text als Kommentar zu den Bildern gelesen werden will. Die beiden Positionen über ein gemeinsames Thema – Unterwegssein mit und in der Bahn - sollen sich vielmehr ergänzen und gegenseitig verstärken, obwohl sie nicht unmittelbar ineinander verwoben sind. Dass das gelingt, mag unter anderem daran liegen, dass die Fotografien Clements ganz und gar ohne Personal auskommen. Denn damit lassen sie, ohne dass das jemals in der Absicht der Künstlerin gelegen hätte, Ulrich genau den Raum, den sie als Schriftstellerin benötigt, um ihre Geschichte und ihre Charaktere zu entfalten. Clement richtet ihren Blick auf den Innenraum der Züge. Was wir zunächst sehen, sind verschwommene Linien, Flächen mit diffusen Rändern, abstrakt anmutende Kompositionen, vollkommen unbelebte Räume – selbst für den geübten Zugfahrer lassen sich die Motive der Fotografien wie Leverkusen oder Köln erst in der Serie als Details aus diversen Zugtypen identifizieren: Man hat das alles hundertmal gesehen (und benutzt) und doch nie wirklich hingeschaut. Die Bilder scheinen eher zufällig, fast beiläufig entstanden zu sein, in ihrer malerischen Wirkung wecken sie jedoch eine Melancholie, die Fragen aufwirft. Bei Ulrike Ulrich hingegen strotzt das Leben, wimmelt es vor Menschen: Ihre Protagonistin Lo fährt Zug. Sie bricht aus ihrem alten Leben aus, macht sich auf, um Job, Freunde, Verwandte und Liebhaber hinter sich zu lassen. Sie fährt ICE, ICN, TGV, Talgo, Thalys, sie schläft im DNZ, im CNL, im Euronight. In den Städten, die sie auf ihrer rast- und ruhelosen Fahrt kreuz und quer durch Europa erreicht, macht sie nicht etwa Halt, um sie sich - wie andere Touristen - anzuschauen, sondern steigt immer nur um, von einem Zug in den nächsten. Sie sammelt Züge und Bahnhöfe. Dabei trifft sie Menschen und verliert sie nach einiger Zeit auch wieder aus den Augen. „Wie eine Roulettekugel, sagt Lo. Solange sie sich bewegt, ist alles noch möglich.“ Station macht sie erst, als ihr Geld, Ausweispapiere und Ticket geklaut werden und sie den Mikrokosmos bzw. den Schutzraum Zug notgedrungen verlassen muss, um sich Ersatz zu besorgen und sich ihre Identität bescheinigen zu lassen. Was Ulrich uns hier liefert, ist eine Metapher für den Aufbruch, ein Loblied auf den Mut, alles hinter sich zu lassen, selbst wenn man keinem konkreten Plan, sondern nur einem Impuls folgt: Sie erzählt uns eine Geschichte über das Reisen mit unbestimmtem Ziel, über das Nicht-Ankommen-Können, das Nicht-Festlegen-Wollen und darüber, Entscheidungen nur bis zum nächsten Halt zu treffen. Über die hohe Kunst des Alleinseins in vollen Zügen. Über die Suche nach sich selbst, die an eine Flucht vor bzw. aus dem eigenen Leben gekoppelt ist.