Deutsche Erzählungen des 19. Jahrhunderts
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Wenn in diesem Buch nur sechs Erzählungen aus dem 19. Jahrhundert besprochen werden, hat dies für den Interpreten einen sehr persönlichen Grund: sie gehören zu den literarischen Texten, die ihm besonders gut gefallen, die er immer wieder lesen könnte und auch liest, ohne dass sie ihm langweilig würden. Dabei stellt sich dann heraus, dass er mit seiner Wertschätzung nicht allein ist, sondern sie mit vielen anderen Lesern teilt. Die Bewertung der Erzählungen erfolgt unter zwei Gesichtspunkten: einem thematisch-inhaltlichen und einem formal-ästhetischen. Ersterer frag nach der Wahrheit des Werks. Gemeint ist damit natürlich nicht, was als wahr bewiesen werden kann und von jedem, der logisch vorgeht, bestätigt wird. Wahr meint in diesem Zusammenhang, was für mich wahr ist, wovon ich überzeugt bin, also etwas Subjektives, dem ich als Leitbild meines Handelns und Lebens folge. Es gibt aber auch Menschen, für die andere Wahrheiten gelten oder in anderen Zeiten oder Gesellschaften gegolten haben. Die Erzählungen aus dem 19. Jahrhundert wollen uns zum Nachdenken über ihre Wahrheiten anregen. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Einschränkend gilt, dass Wahrheit in einer Erzählung im Gegensatz zu einer philosophischen Abhandlung nicht theoretisch dargestellt wird, sondern sich in einer Geschichte ereignet; wir erfahren sie nach und nach und erkennen sie oft erst am oder nach ihrem Ende. Schönheit dagegen, unser zweiter Leitbegriff, haftet am vorgestellten Wirklichen einer Erzählung und nicht direkt an ihrer Wahrheit. Eine zweite, noch wichtigere Einschränkung ist, dass es nicht nur um den Wahrheitsgehalt der Erzählung geht; es ist zwar legitim ihm nachzuspüren, aber ein solches Herangehen lässt oft außer Acht oder vernachlässigt, dass es dem anspruchsvollen Erzähler noch um etwas anderes geht, nämlich um die Qualität des Erzählens. Verfügt er über einen reichen Wortschatz, kann er seine Geschichte anschaulich zum Ausdruck bringen; dabei geht es aber mehr um ihren Inhalt; erst wenn er sie in eine gefällige, ansprechende Form bringt, genügt sie unserem ästhetischen Anspruch. Dem Dichter geht es um das Wahre und das Schöne. Methodisch ist außerdem zu bedenken, dass sich die Erzählungen im Medium der Sprache bewegen. Ihre verschiedenen Ebenen müssen gesehen und gewürdigt werden: die Ebene der Worte und Wendungen, die sich ästhetisch durch Anschaulichkeit und Lautung auszeichnen; die Ebene der Sätze und Satzgefüge, die durch Satzfiguren, Betonungsmuster und Satzmelodie hervorragen; inhaltliche Erzählabschnitte, die ähnlich wie Sätze und Satzgefüge geformt sind; schließlich die ästhetische Teil- und Gesamtform, die Architektur der Erzählung; auch sie sollte als Schönes im Wahren erscheinen.