Die Ordnung des Kalenders
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Die drohende Ödnis eines Tagebuchs, diese ihre Schwäche zum Programm erhebende, literarisch monolineare Gattung, übersteigt Walter Kargl in eine neue, facettenreiche Superlinearität. Hans Christian Andersens Idee, den „ganzen Gesellschaftsklatsch zu einem sichtbaren Gewebe zu verknüpfen“, um ein „buntes Stück“ vom Webstuhl zu nehmen, übertrumpft der Autor mit feuilletonistischer Brillanz und profunder Kenntnis. Sein Personenverzeichnis führt fast alles, was kulturellen Rang und historischen Namen hat, von Johannes dem Täufer zu Leonardo, Erasmus, Heine, Husserl, Hegel, von Hentig, Huxley, Monet und Baselitz, zu Marcello Mastroianni, Peter Suhrkamp, aber auch zu Hitler, Himmler und Donald Duck. Mit den mehr oder weniger bekannten Geschehnissen, Erkenntnissen, historischen Dokumenten und den Fragen, die in das Räderwerk unserer kulturellen Evolution eingegriffen haben, läßt es der leidenschaftliche Erzähler aber nicht bewenden. Auf längst abgeerntet geglaubten Feldern wie über Ursachen und Folgen des Antisemitismus collagiert er Erstaunliches. Das Suchen von „Spuren der verrinnenden Zeit“ nennt er das bescheiden. Literaturwissenschaftlich ist Walter Kargls überzeugendes Werk ohne Vorgänger, ohne Beispiel: Die Subjektivität des Tagebuchs wird von der Objekthaftigkeit unseres geschichtlichen Wissens durchdrungen, denn das Kalenderjahr wird zum Gerüst für alle Jahre zuvor. Wie verhält sich aber die Ordnung des Kalenders zur Ordnung der Dinge? Das exzellent unterhaltende Gewebe aus Erkenntnis und Reflexion, die das Erkennen ist, stößt den Leser zuletzt auf die Urfrage, aus der die Philosophie entstanden ist:. Was bedeutet, im Tag, den ich auslebe, die Welt für mich? Dr. Markus von Hänsel-Hohenhausen