Renate Reschke Knihy






Seit ihrem Gründungsakt Mitte des 18. Jahrhunderts definiert sich Ästhetik über eine besondere ratio und über die permanente (Selbst)Reflexion ihrer eigenen Geschichte. Die ausdrücklich kulturelle und gesellschaftliche Bezüglichkeit ist ihren Begriffe eingeschrieben. In den gegenwärtigen Diskursen und Neubestimmungen der ideellen Horizonte der Ästhetik ist eine latente und folgenreiche Marginalisierung dieser Bestimmungsmomente nicht zu übersehen. Der (re)konstruierende Vollzug ihrer Historizität erfolgt - wenn überhaupt - fast ausschliesslich auf die Interessen moderner Theoriekonstellationen hin. Alle Sozialität ist (fast) vollständig kassiert. Der sich herstellende Widerspruch zwischen der notwendigen Akzeptanz der Historizität und Sozialität ihrer Begriffe für den Selbst(bestimmungs)wert der Ästhetik und und ihrer Preisgabe ohne Not potenziert unter aktuellem Vorzeichen den Zweifel an ihrer perspektivischen Wirkung. Damit verbundenen Defiziten ist unter dem Aufmerksamkeitsparadigma postmodern praktizierter selbstreflexiver Kritik nur schwer zu entgehen. Vorliegende Publikation setzt an dieser Stelle ein. In fallstudienartigen Skizzen zu einigen Grundbegriffen ästhetischen Denkens, angeregt durch die ersten Bände des Historischen Wörterbuchs „Ästhetische Grundbegriffe“ (Metzler: Stuttgart, Weimar 2000ff) wollen die Autoren durch wiederholende Lektüre historischer und moderner Texte (Kant, Freud, Nietzsche, Romantik) und mit epistemologischen Studien (Masse, Entfremdung, Schicht, Geschichte) epilogisch, d. h. im Sinne erwägender Teilnahme Geschichtlichkeit und Geschichte ebenso wie Kultur und Gesellschaft, reklamieren für die moderne Ästhetik. Als conditio sine qua non ihrer relationalen Perspektive. Und als Indikator einer grundlegenden Korrespondenz zu kulturwissenschaftlichen Diskursen.
Friedrich Nietzsche ist noch immer der umstrittenste Philosoph; die extrem gegensätzlichen Rezeptionsformen seiner Philosophie sind ein Spiegel des 20. Jahrhunderts. Die Jahrtausendmetaphorik, auf die das Motto des zu seinem 100. Todestag veranstalteten Internationalen Kongresses orientierte, gab Gelegenheit, die Rezeption seines Werks kritisch zu analysieren, ihre Leistungen und Desiderate festzustellen und zugleich mit Nietzsche weiter zu denken, nach den philosophischen Implikationen seines Denkens für das neue Jahrhundert/Jahrtausend zu fragen.
Denkumbrüche mit Nietzsche
Zur anspornenden Verachtung der Zeit
Der Titel des vorliegenden Bandes paraphrasiert Nietzsches Reverenz an Schopenhauer und bezeichnet für die Autorin den beispielgebenden Impuls seines Denkens, der ihn zu einer der großen Empörergestalten des Geistes und zum kritischen Warner mit Weitblick für das 20. Jahrhundert gemacht hat. Sein Anspruch, „Widerspruch gegen die Zeit“ zu sein, wird im Kontext der gleichzeitigen Gebundenheit an sie, unter dem Stichwort der Verachtung zum philosophischen Gestus und zum methodischen Potential Nietzsches, seine grundlegende Kulturkritik der Moderne zu formulieren. Die Verdächtigung als konstruktives Denkprinzip strukturiert dabei grundlegend, radikal und ambivalent die Optik des Kulturkritikers und des Ästhetikers, denn alle Kulturkritik ist ihm ästhetisch fundiert und umgekehrt ist alle Ästhetik nicht ohne eine fundamentale kulturkritische Dimension, und gehört zu den fortwirkenden Momenten in der mehr als einhundertjährigen Rezeptionsgeschichte. Der Band vereinigt Aufsätze aus zwei Jahrzehnten, von schwer zugänglichen und zur Zeit ihrer Erstveröffentlichung in der DDR heiß umstrittenen bis zu solchen, die am Übergang zum nächsten Jahrhundert im vereinigten Deutschland entstanden sind – in der Art und Weise ihrer Präsentation ergeben sie eine zusammenschließende Interpretation Nietzschescher Kulturkritik, Ästhetik und von deren Rezeption durch WissenschaftlerInnen mit divergierender philosophischer Perspektive. Darin sollte dem Leser mehr, als er der Autorin augenscheinlich ist, der „östliche“ Ursprung der Erfahrungen sichtbar werden, die das ausdrückliche Interesse an der Kulturkritik provoziert und profiliert haben und zugleich Denkanstöße für einen fortzusetzenden Dialog mit Nietzsche.
Nietzsche, die Medien und die Künste im Zeitalter der Digitalisierung
- 250 stránek
- 9 hodin čtení
Ausgehend von Nietzsches Medienkritik an der zeitgenössischen Massenpresse, ihrer Mitverantwortung für die Vermittelmäßigkeit moderner Kultur, Meinungsmanipulation und Informationsüberflutung, die auch die Künste und Wissenschaften verändert, werden Fragen gestellt, inwieweit und ob Nietzsches Beobachtungen und Schlussfolgerungen für den Umgang mit modernen Massenmedien und digitaler Kommunikation produktiv gemacht werden können. Greifen seine Auffassungen auch, wenn es um Internet, social media, Virtual Reality oder KI geht? Gibt es Schnittstellen zwischen moderner Medien-, Kunst- und Theorieentwicklung und Nietzsches Beobachtungen am Ende des 19. Jahrhunderts? Die Beiträge thematisieren u. a. den Zusammenhang von Digitalität und Medien, Fragen nach der Wahrheit unter massenmedialen Vorzeichen, mögliche Folgen einer ebenso erhofften wie gefürchteten ‚Herrschaft der Algorithmen‘, Perspektiven der Acceleration, neue Dimensionen der Künste und neue Denkansätze in Philosophie, Psychologie und Kunsttheorie. Diese Fragen betreffen die Herausforderungen des modernen Menschen, sein Selbstverständnis, seine Wahrnehmungswelten, seine Wertepräfiguationen und die Zukunft einer medial dominierten Welt betreffen.
Die Opposition von Wahrheit und Schein sowie die Fragen nach dem Wesen der Wirklichkeit sind zentrale Probleme philosophischen Denkens seit der Antike bis zu den Systemphilosophien des 18. Jahrhunderts. Die modernen Naturwissenschaften und materialistischen Weltentwürfe des 19. Jahrhunderts haben den Diskurs über die Wirklichkeit entscheidend beeinflusst. Nietzsche hat sich aktiv an diesen Diskussionen beteiligt, indem er Kants „Ding an sich“ kritisch hinterfragte und die Vorsokratiker sowie zeitgenössische Physik neu interpretierte. Er verband die Frage nach dem Wirklichen mit der nach der Wahrheit, was dazu führte, dass alles Wirkliche unter dem Aspekt des Scheins betrachtet werden musste. In diesem Band werden verschiedene philosophische Themen wie der Wille zur Macht, das Subjektverständnis und die ewige Wiederkehr des Gleichen beleuchtet. Die Existenz der Wirklichkeit wird als fiktiv, pragmatisch und ästhetisch verstanden, wobei die Interpretation sowohl an der Realität als auch an den Möglichkeiten der Interpretation selbst zweifelt. Ein klassischer Aufsatz von Friedrich A. Kittler von 1980 wird als Hommage an den verstorbenen Autor präsentiert. Weitere Beiträge thematisieren Nietzsches Philosophie des Geistes, die Beziehung zwischen Interpretation und Sinnsetzung, seinen dionysischen Pantheismus, die Ethik der Freundschaft sowie seine Kritiken und Rezeption bei anderen Autoren.
Friedrich Nietzsches Verhältnis zu Frauen, sowohl in seiner Philosophie als auch in seinen problematischen persönlichen Beziehungen, wurde in der Forschung vielfach thematisiert. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert gab es eine teils begeisterte, teils kritische Auseinandersetzung mit seiner radikalen Kulturkritik und dem Versuch einer ‚Umwertung der Werte‘, insbesondere durch Vorkämpferinnen der Frauenbewegung und bedeutende Philosophinnen wie Hannah Arendt oder Judith Butler. Der vorliegende Band vereint erstmals diese Perspektiven, um Nietzsches rigorose Ablehnung der zeitgenössischen Frauenemanzipation, seine negativen Frauenbilder sowie seine freundschaftlichen Beziehungen zu prominenten Frauen wie Malwida von Meysenbug und Lou von Salomé transparent zu machen. Es wird deutlich, dass das Thema Frauen ein zentraler Bestandteil seiner Philosophie und Kulturvorstellungen war. Nietzsches Wertschätzung der Weiblichkeit sah er stets in einer naturgegebenen Differenz zur männlichen Welt. In seiner späten Phase äußerte er jedoch zunehmend aggressive Kritik an der Frauenbewegung, die er als Abkehr des Weiblichen von seiner natürlichen Bestimmung verstand. Vertreterinnen dieser Bewegung reagierten auf seine Ablehnung, reklamierten aber auch den Teil seines Denkens, der auf die Emanzipation des Menschen aus den Zwängen einer widernatürlichen Kultur abzielte.
Nietzsches Denken ist in seiner Wirkung beispiellos widersprüchlich und fortgesetzt aktuell. An ihm scheiden sich bis heute die Geister. Philosophien, Kunstströmungen und politische Ideologien schwankten im 20. Jahrhundert zwischen Euphorie oder Verdammung, Affirmation oder Totschweigen. Missbräuchliche Lektüre hat unter faschistischem und stalinistischem Vorzeichen seine Ideen und Utopien pervertiert. Nach 1945 geben historisch-kritisch fundierte Auseinandersetzungen in Philosophie, Künsten und Medien zunächst vorsichtig, zum Ende des Jahrhunderts verstärkt Einblicke in die Vielfältigkeit der Deutungen seines Denkens. In den Hauptströmungen von Philosophie, Ethik und Ästhetik und in den Kunsttheorien der Moderne und Postmoderne ist Nietzsches Denken impulsgebend. Naturwissenschaftliche und soziologische Interessen an seinen provozierenden Thesen zeigen die Unabgegoltenheit seines Denkens. Literarische und musikalische Adaptionen, seine Bedeutung für bildende Künstler vom Expressionismus bis zur Neuen Sachlichkeit, sein Einfluss auf die Entwürfe der modernen Architektur geben aus der Sicht gegenwärtiger internationaler Nietzsche-Forschung einen umfassenden Überblick über einen der einflussreichsten Denker auf das 20. Jahrhundert.
Literaten, Maler, Bildhauer und Musiker, aber auch Architekten und Kulturkritiker vor allem in Deutschland und Frankreich haben von der Jahrhundertwende bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Nietzsche den Philosophen-Künstler gesehen und den Kunstcharakter seiner Sprache und deren intensive Bildlichkeit entdeckt. In „Also sprach Zarathustra“ fanden sie eine Bild-, Zeichen- und Metaphernwelt vor, die nicht nur zur literarischen Interpretation und zur künstlerischen Gestaltung reizte, sondern in der eine lebensweltliche Philosophie durch Bild und Sprache dem Geist der Zeit in einer Weise Ausdruck zu geben schien, dessen ästhetische Dimension bis dato unterschätzt worden war. Darüber hinaus sahen viele Künstler in Nietzsche die tragische Verfasstheit des modernen Menschen repräsentiert und sich selbst durch ihn bestätigt. Philosophen taten sich lange schwer, Nietzsches Sprache als Thema ihres Faches zu begreifen. Die Vorreiterrolle der französischen Postmoderne dazu ist bekannt und inzwischen selbst schon Forschungsgebiet. Seit einigen Jahren geben die Erkenntnisse der modernen Bildwissenschaft(en) auch der Nietzsche-Forschung neue Perspektiven und gewinnen an Bedeutung. Im vorliegenden Band geben Philosophen, Kulturwissenschaftler, Architektur-Theoretiker, Kunst-, Literatur-, Medien- und Musikwissenschaftler diesbezüglich Einblicke in neueste Forschungsergebnisse.
War Nietzsche ein radikaler Gegner oder ein radikaler Aufklärer? Die Beiträge des Bandes, entstanden aus der Internationalen Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, beleuchten diese Frage. Trotz der Vielschichtigkeit und teils gegensätzlichen Argumentationen zeigt sich ein dreifacher Konsens. Erstens wird die Notwendigkeit einer Thematisierung von ‚Aufklärung‘ angesichts des kulturellen Wertewandels im Kontext der Globalisierung und der Radikalisierung grundlegender Menschheitsfragen durch moderne Bio- und Gentechniken sowie digitale Vernetzungen deutlich. Diese Problematik, unter dem Stichwort ‚Zukunft des Humanen‘ diskutiert, hat tiefgreifende Auswirkungen auf die menschliche Lebenspraxis. Zweitens wird die Produktivität von Nietzsches radikaler Kritik an der Aufklärung hervorgehoben, die eine allgemeine Problematisierung des ‚Projekts Aufklärung‘ unter modernen Bedingungen anstößt und zugleich zur Selbstinfragestellung der Aufklärung führt. Drittens wird Nietzsche in der Spannung zwischen Radikalität von Aufklärung und Gegenaufklärung sowie Geschichtlichkeit und Aktualität positioniert, um die Zukunft einer Aufklärung zu hinterfragen, die ihre ‚Unschuld‘ bereits im 18. Jahrhundert verloren hat.