Albert Ettinger Knihy




Am 23. Mai 1991 verabschiedete der US-Senat eine Erklärung, in der „Tibet“ als „ein besetztes Land“ bezeichnet wurde. Angesichts der Tatsache, dass die kaiserlich-chinesischen Ambane in Lhasa bereits über ein halbes Jahrhundert regierten, bevor die USA gegründet wurden, und dass ein Großteil des heutigen US-Territoriums durch Eroberung, Krieg und Betrug an den Native Americans annektiert wurde, erscheint diese Erklärung vermessen. Es ist bemerkenswert, dass weder der Völkerbund noch die UNO oder Länder wie die USA, Großbritannien oder Indien Tibet jemals als unabhängigen Staat anerkannt haben – nicht einmal in Zeiten, als China politisch schwach war. Wichtiger als rechtliche Aspekte ist die Erkenntnis, dass die wenigen Jahrzehnte tibetischer „de facto-Unabhängigkeit“ kein Goldenes Zeitalter der Freiheit waren. Vielmehr erlebte Tibet eine Zeit imperialistischer Einmischung, politischen und sozialen Stillstands, Misswirtschaft sowie aristokratischer und klerikaler Unterdrückung. Diese Phase war geprägt von wirtschaftlichem Niedergang, Obskurantismus, Ungerechtigkeit, politischen Intrigen, Attentaten, Morden, Krieg und Bürgerkrieg.
TIBET. Welche Gedanken, Begriffe und Bilder stellen sich bei Ihnen ein, wenn Sie das Wort lesen oder hören? Ist es der Ausdruck „Dach der Welt“? Sind es malerische Szenen mit frommen Mönchen und exotischen Riten? Ist es „Seine Heiligkeit“, der stets verschmitzt und rätselhaft lächelnde „Gottkönig“ Dalai Lama? Sind es durchweg positiv besetzte Begriffe wie Buddha, Weisheit, Spiritualität, Meditation, Erleuchtung, Askese, Toleranz, Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit? Oder ist es die griffige Polit-Parole „Free Tibet!“? Möglich ist aber auch, dass Ihnen der Spruch von der „Hölle auf Erden“ in den Sinn kommt. Sowohl der Dalai Lama als auch die chinesische Regierung haben ihn gern und oft benutzt, und beide haben ihn auf Tibet bezogen. Allerdings meinten sie jeweils etwas völlig anderes. Für den Dalai Lama ist ja das chinesische, das neue Tibet, das er 1959 verließ, eine „Hölle“ und ein „großes Gefängnis“, insbesondere deshalb, weil man dort die Religion, die er als Kern der tibetischen Identität und Kultur begreift, unterdrücke. Nach chinesischer Darstellung aber sind es gerade der geflohene Gottkönig und die früheren tibetischen Eliten, die für eine „Hölle auf Erden“ stehen: für das alte, das traditionelle Tibet nämlich, das eine zutiefst inhumane, grausame, tyrannische und korrupte Feudalgesellschaft darstelle.