Poetik und Poesie des russischen Imaginismus
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Die Autorin versteht ihre Arbeit als Beitrag zur literarischen 'Rehabilitierung' Anatolij Borisovic Mariengofs (1897-1962), der, wie viele seiner russischen Schriftstellerkollegen des 20. Jahrhunderts, der ideologisch verordneten Kurzsichtigkeit sowjetischer Literaturwissenschaft zum Opfer fiel. Mariengof, der heute vor allem als Prosaschriftsteller einen Namen hat, gehörte in den frühen zwanziger Jahren der literarischen Vereinigung der Imaginisten an, die mit einer individualistischen und antiideologischen Auffassung von Poesie in Konflikt mit der neuen Ausrichtung der nachrevolutionären Literatur geriet und alsbald beim sowjetischen Regime in Ungnade fiel. Die Kritik richtete sich insbesondere gegen die schockierende Bildlichkeit der Texte, deren ungewöhnlich kontrastreiche und tabuverletzende Lexik die Grenzen des zeitgenössischen guten Geschmacks überschritt, gegen ihre experimentelle Form und die fehlende inhaltliche Eindeutigkeit. Verbunden waren die Angriffe mit dem lstark, besonders aus dem Lager der marxistischen Kritiker und Dichter geäußerten Verdacht, Mariengofs lyrische 'Entgleisungen' seien in ihrer drastischen, zunächst noch extrovertierten, bald aber von einer egozentrischen Melancholie geprägten Darstellung höchst individuellen Zeiterlebens im Grunde antirevolutionär, auf jeden Fall aber einer veralteten bourgeoisen Dekadenz verhaftet. Mit der Konzentration auf die imaginistische Lyrik geht die Autorin das mariengofsche OEuvre von einer bisher marginalisierten Seite her an und gliedert sich damit in den Rahmen der Forschungsarbeiten ein, die der Erschließung der Literatur der unmittelbaren Nachrevolutionszeit gewidmet sind. Ziel ist es, über die Untersuchung und Deutung sowohl der theoretischen Schriften als auch der lyrischen Werke Mariengofs aus den Jahren 1917 bis 1924 Zugang zu Poetik und Poesie des russischen Imaginismus zu finden, der erst in den letzten zwei Jahrzehnten in das Blickfeld der internationalen Russistik gerückt ist. Zunächst erfolgt die Darstellung der Entwicklung und ideellen Fundierung der imaginistischen Kernideen durch Sersenevic sowie deren Anpassung an eine eigene Kunstauffassung durch Mariengof. In beiden Fällen steht die Annäherung an die Frage im Mittelpunk, auf welche Weise die verschiedenen Versionen einer imaginistischen Poetik in den literarhistorischen Kontext eingebunden sind. Dabei wird die These aufgestellt, dass die Wurzeln des Imaginismus sowohl in der frühfuturistischen bzw. formalistischen Sicht der poetischen Sprache als auch in der symbolistischen Bildtheorie liegen, dass darüber hinaus aber auch ästhetizistisches bzw. dekadentes und romantisches Gedankengut eine Rolle in Theorie und Praxis spielen. Vorangestellt ist eine kurze Zusammenfassung maßgeblicher theoretischer Schriften anderer Imaginisten, ein Überblick über die bisherige Forschung und Kritik sowie der Versuch, mit dem Begriff der 'synthetischen Avantgarde' vorab hypothetisch eine Kategorie zu etablieren, mittels derer die Diskussion über die literarhistorische Einordnung des Imaginismus versachlicht werden kann. Vor diesem Hintergrund der Theoriedebatte und im Hinblick auf deren Relevanz für die lyrische Praxis schließt sich die exemplarische Untersuchung und Deutung von Mariengofs Gedichten aus Vitrina serdca und Jav' (1917-1918) sowie der Poeme Magdalina (1919) und Razocarovanie (1921) an mit der Zielsetzung, sie sowohl auf der Folie der imaginistischen Poetik als auch hinsichtlich der Entwicklung stilistischer Eigentümlichkeiten in Form und Inhalt zu bewerten.