Jude, Kommunist und Widerstandskämpfer
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Nach der Lektüre meiner Erinnerungen hat mir die Enkeltochter meines Bruders anlässlich meines 80. Geburtstages einen Brief geschickt, den ich aussergewöhnlich finde, voller Geist, Humor und Sensibilität. Ich will ihn als Einführung voranstellen. 11. Juli 1922, Geburt von Siegmund [in Aschaffenburg]. Noch ein Baby? Das ist nichts Neues mehr für die fünf Brüder und Schwestern, die ihn mit Küssen und Blumen bedecken. Mit fünf Jahren ist er immer noch der kleine letzte, aber der erste für eine Tracht Prügel. Manchmal vergisst er die Schule: Er geht lieber ins Kino, das ist lustiger. Mit zehn Jahren wird das Leben in Deutschland schwierig, und die ganze Familie beschliesst die Koffer zu packen. Richtung Frankreich: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Alle 14 Tage Schlangestehen auf der Íle de la Cité, bis man an der Reihe ist, um – vergeblich – die Beamten der Präfektur anzuflehen. Ein Leben zwischen den Hallen und den Kochtöpfen, zwischen Küche und Zimmer, Küchenabfällen und Müll. Im Familienrestaurant keine Zeit zum Träumen. Hier sind es die Kunden, die Schlange stehen, jeden Tag ein paar mehr. Mit 17 heisst es flüchten, denn es ist Krieg, aber der Exodus sollte nur von kurzer Dauer sein. Siegmund, jetzt heisst er Simon, wird Mitglied der Kommunistischen Jugend, was ihm mehrere Monate im Gefängnis “Santé” einbringt. Mit 20 verwandelt er sich in François und schliesst sich der Résistance an. Glück wird er mitunter brauchen, um damit zu Rande zu kommen. Im schönen grünen Anzug seines Vaters wird er, nicht blöd, Dolmetscher für die Boches in der Landwirtschaft! Mit 25 ist der Krieg zu Ende, die Familie findet wieder zusammen, Dora und Leo jedoch sind auf immer weg. Sie werden niemals zurückkehren. Mit 30 trifft er auf Hélène. “Was riskiert man schon? Also schauen wir mal!” Aus ihrer leidenschaftlichen Liebe im 13. Arrondissement entspringen bald zwei Söhne, Gérard und Luc. Mit 40 arbeiten Hélène und Simon, vollkommen Sklaven ihres Waschsalons, zwölf Stunden am Tag bis zur Erschöpfung. Simon verlässt sie dann (die Waschmaschine, nicht Hélène!), um für einen nicht gerade zartfühlenden Chef zu arbeiten, für den er nicht geschaffen war, während Hélène in ihrem Viertel eine Boutique eröffnet und den treuen und über ihre Ratschläge entzückten Kunden eine grosse Auswahl an Wäsche anbietet. Mit 50 arbeitet Simon in der Telefonmontage und zieht von Ort zu Ort. Er zieht Leitungen von A nach Z, mitunter bei berühmten Kunden. Eines Abends in Raincy schüttet ihm seine Mutter ihr Herz aus, ehe sie für immer die Augen schliesst. Mit 60 sind seine Kinder schon gross, die Vögel ausgeflogen. Aber die Eltern wachen immer noch über die Kleinen, und dann der wohlverdiente Ruhestand. Hélène und Simon haben Reisepläne und auch Ideen für den politischen Kampf, Altersgrenzen kennen sie nicht. Mit 70 macht sich Simon an die Informatik, in dieser schwierigen Zeit ist er stets auf dem Laufenden, und mehr denn je mit der schönen und sanftmütigen Hélène zusammen, der grossartigen Köchin. Ein einträchtiges Paar, immer füreinander da. 80 Jahre! Simon, Du hast im Laufe Deines Lebens die Freuden des Glückes kennengelernt, aber die waren oft mit Prüfungen des Schicksals getrübt. Du hast den Bericht Deiner Erinnerungen geschrieben, damit all dies nicht in Vergessenheit gerät! Wenn wir uns heute hier versammelt haben, Deine Familie und Deine Freunde, mit dem Bild derjenigen in unseren Herzen, die nicht mehr unter uns weilen, dann um würdig Deinen Geburtstag zu begehen, lieber Simon, und Dich ein wenig zu ehren für Dein Engagement, Deine Revolte, Deine Treue und Deinen Mut.”