Hanoi meine Liebe
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AuszugWenn ich nach Vietnam reise, steht in meinem Visumsantrag immer: Familienbesuch. Im bürokratischen Sinne stimmt es nicht, im menschlichen schon, und nicht erst seit Huongs Mutter mich ihren Adoptivsohn nennt. Es begann damit, dass ich meinen Freund Nguyen Van Huong, der als juristischer Berater beim Berliner Ausländerbeauftragten arbeitet, 1997 nach Vietnam begleitete. Ich lernte seine Familie in Hanoi kennen, die Mutter und seine vier jüngeren Geschwister. Huongs Vater wohnte damals schon nicht mehr in Nordvietnam. Er war zu seiner ersten Frau und deren Kindern in den Süden heimgekehrt, wo er einst von den französischen Besatzern auf eine KZ-Insel verschleppt worden war. Nach sieben Jahren Haft wurde er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs in den Norden deportiert, in die Demokratische Republik Vietnam. Dort heiratete er erneut und begann in Hanoi ein neues Leben. Nach der Wiedervereinigung des Landes hatte er zwei Familien, eine in Süd- und eine in Nordvietnam. Ich lernte das sechsundachtzigjährige Oberhaupt in der Küstenstadt Nha Trang kennen, einen klugen, gutherzigen Mann, der versuchte, wie es in Vietnam Tradition ist, seine Großfamilie im Süden zusammenzuhalten und auch seine Frau und die Kinder im Norden zu unterstützen. Für die Familie in Hanoi sorgte inzwischen von Deutschland aus sein ältester Sohn aus dem Norden. Als der Vater starb, war Huong nun derjenige, der die beiden Familien vor Unglück und materiellen Schwierigkeiten bewahren musste. Zum Begräbnis kamen alle zusammen. Danach lebten sie wieder getrennt, in der Familienfestung in Hanoi und im Meerhaus in Nha Trang. Ich flog während der Trauerzeit mit nach Vietnam, ehrte den Vater, indem ich seine Kinder im Norden und im Süden besuchte, und spürte, dass ich nach meinem ersten Buch unbedingt noch ein zweites schreiben musste. Ich war kein Außenstehender mehr, gehörte bereits dazu. Von nun an reiste ich auch ohne meinen Freund. Ich hatte sein Vertrauen, erfuhr trotz Sprachschwierigkeiten von den großen und kleinen Veränderungen, von neuen Problemen und Sorgen, von einem seit Jahren schwelenden Streit zwischen Huong und seinem Bruder Ha und vom drohenden Auseinanderbrechen der Familie. Denn in ihrem Alltag spiegeln sich all die Widersprüche, die das fernöstliche Land durcheinander schütteln – auf der einen Seite die Tradition und die Reste der Ho-Chi-Minh-Ideologie, auf der anderen der hereinbrechende Kapitalismus und die westliche Lebensweise, die die Nation in arm und reich spalten. Dies alles erlebte ich konzentriert in der Familie von Huongs Geschwistern in Hanoi und seiner Halbgeschwister in Nha Trang. Ich durchlitt manchen Konflikt mit, wurde ein Freund von Huongs geschiedener Schwester Hai und auch ein wenig Vaterersatz für ihre Töchter. Wenn ich jetzt nach Vietnam reise, dann nicht mehr nur als neugieriger Reporter, sondern auch als ein Vertrauter, der sich wie ein Vietnamese zurückhaltend und höflich äußert und sich seinen Gefühlen überlassen kann, weil er weiß, dass die Geschichte, die er aufschreibt, auch seine eigene geworden ist.