Nichts kann die missbrauchsbesessene Macht so sehr aushebeln wie persönlich Erlebtes und Intimes, das publik gemacht wird. Die Macht beruht auf Geschichtsfälschung, die alles umfasst, was dem Erhalt der Macht widerspricht: nationale, kulturelle und individuelle Geschichten. Echte Identität muss verleugnet werden, während falsche akzeptiert wird. Je stärker die Diktatur, desto totaler die Fälschungsbestrebungen. Jeder, der unverblümt aus seinem Leben erzählt, wird zum Gefährder. Die persönliche Wahrheit des Erzählers steht gegen die Lügen der Macht und kann deren gefälschte Narrative ins Wanken bringen. In der persönlichen Wahrheit wird individuelle Geschichte authentisch und lebendig, zertifiziert durch den Schreibakt. Der Leser kann sich auf diese verifizierte Wahrheit verlassen, die den Standards von Anstand und moralischer Integrität entspricht. Philipp Lejeune spricht von einem „autobiographischen Pakt“ zwischen Autor und Leser. Autobiographisches Erzählen ist in Diktaturen unerwünscht, da es authentische und aus erster Hand stammende Inhalte bietet. Tagebücher, die Rohform der Autobiographie, sind besonders bedrohlich, da sie die ungeschminkte Wahrheit festhalten. Hausdurchsuchungen zielen nicht auf veröffentlichte Manuskripte, sondern auf private Aufzeichnungen und intime Bekenntnisse. Daher gibt es in Diktaturen selten Tagebücher und Autobiographien, die die Zeit bis zur Veröffentlichung überstehen.
Johann Lippet Pořadí knih
12. leden 1951

- 2023