Zeit der Krammetsvögel
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Leseprobe Der Berg östlich der Stadt liegt bei Sonne sicherlich angenehmer im Auge. Doch weder der Anfang dieser Geschichte noch das Ende bieten diesen Anblick. Es regnete, und es ist wichtig, dieses Faktum nicht einem Bilde zuliebe zu verdrehen. Zumal es seit Martini letzten Jahres regnete und es bis zum Schluß dieser Zeilen aus bösen Zeiten kaum einmal aufhören wird mit dem Nieseln und Tröpfeln. Seit einem halben Jahr kam die Welt der unglücklichen Stadt nicht ins Trockene. Mancher glaubte gar, nicht einmal nach Sophie würde der Himmel die Hosen zuklappen. Und so schloß er dann in diesen Zeiten des Hungers und des Krieges seinen Frieden wenigstens mit der Feuchtigkeit, die ihm - ähnlich den eingelagerten Hessen - längst ins Linnen, in die Wände und die eigenen Knochen gezogen war. Man hatte sich in diesen hoffnungslosen Tagen ans gleichmäßige Regengeräusch gewöhnt, wie man sich angewöhnt hatte, den Kopf eingezogen durch die tristen Straßen zu tragen, bei Begegnung mit einem Bekannten die Achseln zu zucken, fast ohne Gruß aneinander vorbeizulaufen. Nur wenn der Begegnung Gewicht für die eigene Person zukam, fiel der Gruß wärmer, das Heben des Kopfes sichtbarer aus. Mehr ließen Wetter und Unfrieden nur in Ausnahmefällen zu, wie man verstehen wird. Angesichts dieser gröbsten Eigenart des Menschen schien sich des Regens selbst eine gewisse Gleichgültigkeit bemächtigt zu haben. Es prasselte, rauschte, sprühte, nieselte unlustig in seiner Gleichmäßigkeit dahin und neigte nicht zum stürmischen Wechsel von einem in den anderen Arbeitsrythmus. Die Einwohner, soweit sie noch nicht von der Soldateska vertrieben waren, hatten begonnen, Entwässerungsgräben um ihre Häuser zu ziehen, die einen breitere flache, die anderen schmalere tiefe. Längst waren Stühle, Tische Bänke, Truhen, Schränke auf Eichenklötze oder Backsteine gestellt, um das Hinaufziehen der kalten Feuchtigkeit vom Boden her zu verhindern. Doch war auch die Luft so durchfeuchtet, daß Träume in den Köpfen der Menschen gingen, in denen Fische - vornehmlich solche in der Fratze und den Farben eines ihnen einquartierten Hessen - hinausgeschwommen kamen. Die abgezehrten Bewohner unserer Städtchens hatten bereits den muffigen Regengeruch an sich - gerade wie die im kolumbischen Macondo. Dem ein oder anderen zeigte seine Haut bei diesem trüben Tageslicht betrachtet einen algengrünen Schimmer. "Wat'n Wiär!" (...) Frühling des Jahres 1634: Die trostlose, verregnete Stadt Coesfeld wird zum Schauplatz eines Aufeinandertreffens kaiserlicher, hessischer und schwedischer Truppen. Inmitten dieser Kriegsszenerie verbindet sich das Schicksal einiger an Stand, Alter und Bildung sehr unterschiedlicher Personen: Anna Krabbe - als Hexe beschimpft und Gefährtin des Stadtkommandanten Carl von Uffeln -, ihr Geliebter, der unstandesgemäß gezeugte Cornelis von Velen, dessen ihm zugeneigter Lehrer, Magister Matthias Gweitner, der Knecht Smelling und das elternlose Bürgermädchen Mette. Jeder auf seine Weise vom Krieg gezeichnet, reflektieren ihre Ängste, Erlebnisse und Handlungen auf einem gefahrvollen Marsch von der Stadt zu einem unweit gelegenen Schulzenhof die Rohheit und Bestialität eines Krieges, der die Menschen zu seinem Werkzeug macht. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, so die Erkenntnis eines der Protagonisten, der die Zuversicht in den Menschen und das Verbindende eines Dialoges nicht mehr zu teilen vermag. So wird dieser Roman aus dem Dreißigjährigen Krieg nicht zuletzt auch zu einer Parabel auf Ereignisse späterer Jahrhunderte.