Das Eckermann-Syndrom
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Eckermanns Großprojekt eines enzyklopädischen Nachschlagewerks für nahezu alle Rätsel, die Goethe mit seinen Texten aufgegeben hatte, steht am Beginn der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Kommunikationsform des Autoreninterviews. Die „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahres seines Lebens“ sind das Grundbuch für die Interviewkommunikation mit Autoren, ein Akt der Diskursbegründung. Die damit freigesetzten Überzeugungen, Fähigkeiten und kommunikativen Muster formierten sich anschließend zu einem wirkungsmächtigen und folgenreichen Phänomen: zum Eckermann-Syndrom. Es konnte sich bis in das 21. Jahrhundert hinein ausbreiten. Theorie- und literaturhistorische Modernisierungsschübe nahmen am Eckermann-Syndrom vor allem die Trivialisierung von Textwelten wahr. Aber das Eckermann-Syndrom eignete sich sehr früh - in der Mitte des 19. Jahrhunderts - die gerade erst entstandene journalistische Kommunikationsform des Interviews an und machte es sich für eigene Zwecke nutzbar. Auf diese Weise erfuhr es eine enorme Effizienzsteigerung. Autoren wurden mit steigender Tendenz immer leichter zu erreichen; man musste nicht mehr, wie noch Eckermann, mühsame Reisen auf sich nehmen, um in die Nähe der Meister zu gelangen, oder aber die eigene Existenz und die eigenen Bedürfnisse nahezu vollständig in den Hintergrund stellen, um die begehrten Informationen erhalten zu können. Die Verwendung der Interviewmethode erlaubte verabredete Zusammenkünfte und episodenhafte Treffen. Als Effekt entstand das klassische Autoreninterview. Spätestens ab der Mitte des 20. Jahrhunderts gab es kaum noch bedeutende Autoren, die nicht von Eckermann-Syndromatikern umgeben waren. Erste Einblicke in diese Welt liefern die Interviewaktivitäten Heiner Müllers aus den 70er und 80er Jahren. Ausgehend von diesem besonderen Fall lassen sich generelle Einsichten gewinnen, die eine systematische Beschreibung und historische Einordnung des klassischen Autoreninterviews sowie der Welt der Sekundärkommunikation erlauben.