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Zur Konstruktion der kriminellen Persönlichkeit

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich in Graz die Kriminologie als universitär betriebene Wissenschaft. Aufbauend auf den Lehren des „Vaters der Kriminologie“, Hans Groß, entwickelte Adolf Lenz die Kriminalbiologie, mit Hilfe welcher die Persönlichkeit und der Charakter von Kriminellen erforscht werden sollten. Nach den Methoden Ernst Kretschmers wurden Sträflinge körperlich vermessen und kategorisiert, und auch die Seelen der Straftäter sollten durchleuchtet werden. Dabei wandte Lenz - aufbauend auf Lehren von Ludwig Klages und anderen ganzheitlich orientierten Gelehrten - die sogenannte intuitive Methode an: Der Kriminologe sollte sich in den untersuchten Strafhäftling „hineinversetzen“ und so gleichsam aus der Innensicht die Weltvorstellungen der Kriminellen erschließen. Diese fragwürdige, aus heutiger Sicht nur als quasiwissenschaftlich zu bezeichnende Methode ermöglichte das Einfließen weltanschaulicher Elemente in die Kriminalbiologie, und wissenschaftliche Verfahrensweisen wurden durch ideologische Positionen ersetzt. An der Kriminalbiologie kann also paradigmatisch aufgezeigt werden, wie die in der deutschen Romantik wurzelnden Ganzheitslehren mit ihrer Betonung nicht rationaler Elemente und der Intuition in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Eingang in die Wissenschaft fanden und gleichzeitig zum Verlust von Wissenschaftlichkeit führten. Besonders in der NS-Zeit traten die ideologischen Elemente dann in den Vordergrund. Ernst Seelig, der Nachfolger Lenz' am Grazer Lehrstuhl für Kriminologie, betonte die Bedeutsamkeit von Rasse und Erbbiologie für die Kriminalbiologie und wandelte diese in ein Instrument der NS Rassen- und Gesellschaftspolitik um. Nun wurden in Graz nicht mehr nur Kriminelle untersucht, sondern auch sogenannte „Gemischtrassige“, die Personen „deutschen Blutes“ heiraten wollten. Auf Grund der kriegsbedingten Schäden mussten diese Untersuchungen 1944 eingestellt werden, nach dem Zweiten Weltkrieg wurden jedoch die kriminalbiologischen Forschungen unter der Leitung von Hanns Bellavic wieder aufgenommen und bis in die 1960-er Jahre auf der von Lenz eingeführten, intuitiv-gazheitlich orientierten methodischen Basis fortgeführt. Christian Bachhiesl vollzieht in seiner Studie die Entwicklung der Grazer Kriminalbiologie nach, reflektiert ihre Stellung in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts und setzt sich eingehend mit ihren Methoden und Forschungsergebnissen auseinander. Dem Leser wird so nicht nur ein Überblick über eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zukunftsträchtig gepriesene Wissenschaftsrichtung geboten, sondern auch Einblicke in Denkströmungen und Forschungsrichtungen, die sich zwar in der Wissenschaft nicht dauerhaft etablieren konnten und daher größtenteils in Vergessenheit gerieten, im Untergrund des kollektiven Gedächtnisses aber nach wie vor fortwirken. Das Buch bietet die kompetent erzählte Geschichte eines wichtigen Zweigs der Kriminologie und wirft darüber hinaus auch Schlaglichter auf bislang kaum beachtete Seiten der europäischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte.

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2005

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