Pogo im Bratwurstland
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Auszug»Mein Garten, der blüht jedes Jahr / betreten auf eigne Gefahr / Disteln mit spitzen Zacken dran / Disteln so hoch wie ein Mann/ Disteln mit spitzen Zacken dran / Disteln so hoch wie ein Mann!« Diese Zeilen brüllte Dieter Otze Ehrlich, Bandleader, Sänger und Texter von Schleimkeim aus Stotternheim bei Erfurt durch eine kleine Thüringer Kirche und drosch dazu sein Schlagzeug. In einigen meist evangelischen Kirchen der DDR ging Anfang der Achtzigerjahre der Punk ab. Auf dem Kirchhof und vor den Altären wurde gepogt, dass es schepperte. Strickende Omas starrten auf stachelhaarige Widerborste. Punk in der DDR war geprägt von Freiraumsuche und Selbstbehauptung, die, anders als in westlichen Nachbarländern, oft in die Kirchen führte. Punk zu zeigen, Punk zu leben, war freiheitsgefährdend, dennoch veranstaltete eine ganzheitlich distanzierte Generation gute zehn Jahre lang ihren schillernden Krawall. Vielleicht führten sie nicht den Zusammenbruch des Staates herbei, aber sie erzeugten ein Flirren, eine nervöse Balance des Systems, die 1989 nicht mehr zu halten war. Nach 1989 gingen auch die Punks eigene Wege, einige verloren sich in Drogen und auf Reisen, andere gründeten oder stabilisierten die alternative Jugendszene ihrer Käffer und Städte, gründeten Bands oder reaktivierten die alten Barden. So tritt zum Beispiel Schleimkeim wieder voller Wucht in ausverkauften Sälen auf, überwiegend aus der letzten Besatzung von Schleimkeim bestehend. Punk in der DDR ist eine inzwischen gut erforschte, historisch abgeschlossene Subkultur. Es ist viel geschrieben, erzählt und nachgefragt worden. Seit der ersten Auflage dieser, sich auf Thüringen konzentrierenden Betrachtung, sind die Rolle der Frauen im Punk und der wechselseitige Einfluss von Punk und Kunst genauer untersucht worden. In der aktuellen Dokumentation »Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR.« wird unter anderen Gabriele Stötzer porträtiert und ihr Werdegang als in Thüringen verwurzelte und schaffende Künstlerin aufgezeigt, die mit ihren Werken und ihrem Mut nicht nur die Punkszene motivierte und beeinflusste. Für die sechste Auflage unseres Buches (gemeinsam mit Frank Willmann) Satan, kannst du mir nochmal verzeihen – Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest konnte Mita Schamal (Schlagzeugerin der Ostberliner Punkband Namenlos) für ein Gespräch gewonnen werden, sie erzählt von ihren frühen Reisen nach Erfurt, ihren Eindrücken der frisch besetzten Kürschnergasse und den schnuckeligen Jung-Punks. Bis auf Otze waren die nämlich alle »hübsch wie Sau.« Die Geschichte des Zonenpunk made in Thüringen ist vorbei, aber niemals tot – und niemals vollständig nacherzählbar. Wege der Annäherung an das Phänomen führen wie immer auch über die Kunst, bei Ventil erscheint zeitgleich im Frühjahr 2023 ein Schleimkeim-Songcomic (Herausgeber ist Frank Willmann), aus dem wir für dieses Heft Ausschnitte verwenden dürfen. Danke dafür! Punk’s not dead! Punk trägt man im Herzen, Punk ist für alle da. Es gibt kein ewiges Punkgericht, das Jahresringe zählt und Verdienstmedaillen verteilt. Bleibt wachsam und widerständig, lasst euch nicht von den Kleinen und den Bösen verhindern, seid Punkrockkönigin und Punkrockkönig! Anne Hahn im Januar 2023