Lust auf Leerlauf
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Více o knize
AuszugWie oft kommt es vor, dass man in seiner Jugend eine Vorliebe für Tätigkeiten entwickelt, von denen man sich im fortgesetzten Alter kopfschüttelnd distanziert. Viele Leute meiner Generation werden sich nur ungern an ihr in jungen Jahren allwöchentlich praktiziertes Tanzverhalten erinnern. Nach Einsetzen der ersten Takte von In A Gadda Da Vida von Iron Butterfly oder Child in Time von Deep Purple ließen sie sich, wie von einem mächtigen Schwerthieb niedergestreckt, auf die Knie fallen, wirbelten daraufhin die mit wallenden Haaren ausgestatteten Häupter vor und zurück und hechelten so mühsam dem Takt der Musik hinterher. Oder sie gerieten kurzfristig in ekstatische Zuckungen, die den Einsatz eines Rettungswagens nahe legten. Woraufhin sie nach überraschend kurzer Erholungsphase beschlossen, einen imaginären Ei-senbahnwaggon vor sich her zu schieben. Andere entwi-ckelten sich zu pantomimischen Berserkern, indem sie bei einem Cat-Stevens-Song einen Heavy-Metal-Gitarristen imitierten, oder sie glaubten nach jedem Ausfallschritt ein Schlagzeug in Reichweite zu haben, das alle ihre Bewe-gungen vorausahnte und immer an der Stelle wieder auf-tauchte, an der ein unsichtbarer Stick heruntersauste. Weshalb gibt es eigentlich keine Wettbewerbe im Luft-schlagzeug spielen – oder im Luftdudelsack? Könnte ich mir recht lebhaft vorstellen. Dann gab es welche, die streuten sich Schokoladenstreusel aufs Brot oder würzten ihre Nudeln mit Maggi. Ich selbst trug damals Schuhe mit Plateausohlen, weil die Musiker von Slade das auch mach-ten. Doch die hatten sich vermutlich spezielle Plateausoh-len anfertigen lassen, die nicht zu Bänderdehnungen und Kapselrissen führten. Mit meinen Plateausohlen wäre ihre Karriere sicherlich ins Stocken geraten. Überraschend musste ich nach einem Zeitungsartikel feststellen, dass sie in ihrer Freizeit Turnschuhe trugen. Da war ich härter. Ich hab mich beim Schlendern häufiger verletzt als beim Fußball spielen. In der Regel legen sich im Alter diese selbst auferlegten Bewusstseinstörungen. Manchmal jedoch entwickeln sich solch putzige Macken zu ausgewachsenen Neurosen. Da gibt es Leute, die ihr ganzes Leben damit verbringen kleine Porzellanelefanten zu sammeln oder Bananenaufkleber oder abgelaufene Parkscheine. Es soll sogar welche geben, die küssen, wenn sie aus einem Flugzeug steigen, die Rollbahn. Ich habe mittlerweile die Plateausohlen durch Pedale ersetzt. Pedale, die man treten muss, um zwei Räder in Bewegung zu setzen. Ich fahre Fahrrad. Nein – ich muss Fahrrad fahren. Immer wieder Fahrrad fahren. Kaum habe ich ein wenig freie Zeit, schon klebt der Arsch am Sattel. Bereits im frühen Alter von fünf Jahren zeigte mir mein Cousin, wie es funktionierte. Er hob mich auf den viel zu hohen Sattel, schob mich ein Stück und ließ dann los. Später konnte ich mich auch damit fortbewegen.