Kathartische Exzesse
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Hermann Nitsch, Mitbegründer des Wiener Aktionismus, wurde insbesondere wegen Blasphemievorwürfen und Tierschützerprotesten in der Öffentlichkeit immer schon kontrovers diskutiert. Beeinflusst vom Abstrakten Expressionismus, vom Informel und Tachismus der Fünfziger Jahre entwickelte er seine Vision des Orgien Mysterien Theaters. Dieses soll den Rezipienten als ästhetisches, formales Gebilde die Intensität seines Daseins, das sowohl Freude und Lust, als auch Tod und Tragik mit einschließt, über alle fünf Sinne erfahren lassen. Der Mensch soll sich selbst besser kennenlernen, und zwar in Dimensionen, die er zwar in sich trägt, die er aber in der Kultur, der Welt der Konventionen, nicht erleben darf. So soll eine Katharsis, ein psychisch reinigender Effekt, ermöglicht werden. Verdrängtes und Unbewusstes sollen in einem gesicherten Rahmen provoziert, zur Anschauung gestellt und ins Bewusstsein gerufen werden. Die Frage nach dem Wesen des Menschen, Gott und der Schöpfung sind zentral im Orgien Mysterien Theater. Nitsch ist um intensivste sinnliche Registration bemüht, wobei er sich in seiner Konzeption von archaischen Mythen und Kulten, der griechischen Tragödie, Freuds Abreaktionstheorie und liturgischen Riten inspirieren lässt. Er will eine Geschichte des menschlichen Bewusstseins direkt und unmittelbar ohne den Umweg einer vermittelnden Sprache erfahrbar machen. Das mögliche Ziel dieser kathartischen Absicht ist der Mensch, der sich selbst in seinem Sein und seiner Stellung im Kosmos, in seinen Höhen und Tiefen umfangreicher erleben kann. In unserer Kultur sucht der Mensch seinen von Freud angenommenen Aggressions- und Tötungstrieb durch sozial anerkannte Formen der Sublimation auszuleben. Zu nennen sind unter anderem ein Überangebot an Action- und Horrorfilmen, Krimis, gefährliche Ski- oder Autorennen. Nitsch allerdings befürwortet die bewusste Erfahrung des Tötungstriebes im Orgien Mysterien Theater, da bewusste Inhalte die Grundlage für freie Entscheidungen darstellen, während verdrängte Triebe unbewusst zu Abreaktionsformen wie z. B. Krieg verleiten können. Der Mensch, der seine Dämonen kennt, ist weniger leicht manipulierbar als der Mensch, welcher von seinen verdrängten Abgründen gelenkt wird.