Maldicidade
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Seit Ende des 20. Jahrhunderts leben zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in Städten und wild wuchernden, stadtähnlichen Ballungsräumen als auf dem Land, ein Drittel von ihnen in Slums. Diesem globalen Trend scheint eine sich vereinheitlichende Architektursprache zu entsprechen, die Metropolen und Megacitys einander immer ähnlicher werden lässt. Ähnlich auch die Anblicke, die sich jenseits historischer Wahrzeichen, imponierender Skylines und großer architektonischer Gesten in den austauschbaren urbanen Leerstellen und aufgegebenen Vierteln, auf den Abseiten und an den Peripherien bieten. Hier findet sich all das, was die Stadt ausgeschieden hat, gescheiterte Menschen, Müll, ungeregelte Existenzen, Rost, Verfall, Improvisiertes und Provisorisches, überlagert vom Miasma der Perspektivlosigkeit aus Fäulnis, Schweiß, Urin, Blut, Abgasen und verdorbenem Frittierfett. Eine Duftmarke, die sich nicht nur auf Schwellen- und Entwicklungsländer beschränkt. In Maldicidade richtet Miguel Rio Branco die Kamera auf diese Nebenschauplätze im urbanen Raum, auf Obdachlose, Bettler, Prostituierte, streunende Hunde, zertrümmerte Autos, Einschusslöcher, Straßenverkäuferinnen, fliegende Händler, Hinterhöfe und eingeschlagene Scheiben – Sujets, die Stadt nicht als Möglichkeitsraum für Mannigfaltigkeit und komplexe Erfahrungen zeigen, sondern als Ort des Scheiterns und der Gleichgültigkeit. Ob er diese Szenen in New York, Havanna, Salvador de Bahia, Tokio oder anderswo gefunden hat, bleibt dabei ohne Belang: Die Fotografien, die nur spärlich kommentiert oder in einen erklärenden Kontext gerückt werden, sind sorgfältig zu einer einzigen Sequenz angeordnet, in der eine universelle Stadt wiederzuerkennen ist. Ähnlich der Arbeit eines Cutters, arrangiert Rio Branco die Abfolge der Bilder nach rhythmischen Kriterien und gruppiert einzelne Motive (verfallene Gebäude, einsame Gestalten, demolierte Karosserien), Farben (satte Rottöne, staubiges Rosa, kräftiges Weiß und Blau) und Formen (ein am Boden liegender Obdachloser neben der Skulptur eines Heiligen in ekstatisch-verzücktem Zustand) zu sinnträchtigen Mustern. Nur gelegentlich unterbricht er diesen Fluss mit Fotografien, die dem Betrachter eine Atempause zwischen all dem Elend und Unglück zu versprechen scheinen, Bilder von lachenden Menschen oder tanzenden Paaren. Maldicidade – zugleich eindringlich in seiner Botschaft und lyrisch in seinem Arrangement – zeigt einen radikal zersetzten, verelendeten urbanen Raum, eine Welt, die sich anstrengt, alle Dystopien einzuholen und zu übertrumpfen, und in der dennoch Momente von Lebenswillen und Lebensfreude aufscheinen.