Vater unser - gleich nach der Werbung
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In den Mittelpunkt seiner satirischen Betrachtung des deutschen Fernsehalltags hat Dieter Hildebrandt die sogenannten neuen Formate gestellt. Aber ob nun Big Brother, Girlscamp oder House of Love, es ist alles von derselben klaustrophobischen Belanglosigkeit. Indem er die neue Spaßkultur abstraft, bekommt jeder sein Fett weg: Kirch und Kogler, die Medienbeauftragten der Parteien und Kirchen, Fliege, Christiansen und Stefan Raab. Und die Politiker sowieso. Und die wichtigste Frage bleibt: Wo liegt der Unterschied zwischen Endemol und Darmol? Ein paar Gedanken des Autors zu seinem neuem Buch: „Ich schreibe an einem Tagebuch. Notizen vom Küchentisch. Meine Frau und ich leben in der Küche, da wir sämtliche Zimmer, den Keller und den Dachboden vermietet haben. Das hat damit zu tun, dass eine Alterssicherung, eine Rente oder ähnliche Versorgung nicht mehr zu bezahlen ist. Da mussten Mieteinnahmen her. Wir haben zweimal in der Woche zwei Stunden frei. Für die übrige Lebenszeit sind wir vertraglich an unsere Küche gebunden. Wir sind nämlich die Hauptpersonen einer Fernsehserie. Unsere Wohnung ist ein Fernseh-Container. Wir werden rund um die Uhr überwacht. Bei Vertragsunterzeichnung ist uns mitgeteilt worden, dass wir verpflichtet sind, unsere Gefühle, Gedanken, Vorsätze, Vorbehalte täglich der Kamera anzuvertrauen. Die Idee, alte Menschen zu kasernieren, ist nicht neu. Nachdem nun aber klar ist, dass alte Menschen die absolute Mehrheit in der Gesellschaft sein werden, sind Sponsoren auf die Idee gekommen, eine „Old Brother“-Serie auszustrahlen. Täglich, stündlich. Für den Ernstfall stehen vor dem Haus Altenpfleger, Notärzte, Feuerwehrleute und Rotkreuzschwestern parat. Jeden Dienstag kommen Besucher zu uns – Politiker, Industrielle, Filmstars, die intelligente Gespräche mit uns beiden über den Glauben an die Unsterblichkeit führen sollen. Zudem wollen sie etwas von unserem Ruhm abbekommen. Unser Schlafzimmer, Wohnzimmer, das ehemalige Kinderzimmer sind für uns nur zuden ausgemachten Livesendezeiten begehbar. Das ganze Haus ist bestückt mit Scheinwerfern und Kameras. Wenn wir aufs Klo müssen, rufen wir den Aufnahmeleiter an, der das der Sendeleitung meldet. Die entscheidet, ob wir dürfen, wenn wir müssen. Das Drehbuch für unseren zu lebenden Alltag verfasst ein Redaktionsteam. Wir haben dann zehn Minuten Zeit, jene Sätze, die wir spontan sagen sollten, auswendig zu lernen. Im Augenblick spielen wir ein alterndes Ehepaar, das sich zu Hassausbrüchen vorarbeitet. Was uns nicht schwer fällt. Für unser Leben, das wir den Zuschauern nach dem Motto „gelassen in den Tod gehen“ vorspielen, sind zwei Dramaturgen zuständig. Die sagen uns, wie das Leben geht. Er ist ein ungelernter Autoverkäufer, sie eine trocken geschrumpfte Germanistin. Wenn sie in den Raum kommt, verstecken wir den Alkohol und die gute Laune, rauchen nicht und sprechen von Inhalten. Inhalte, sagte die Dramaturgin, müssten daunernd sein. Ich bemerkte dazu, es wäre mit der Zeit schwierig geworden, und zwar durch die zunehmende Perfektion der Verpackungen, an denn Inhalt heranzukommen. Sie vermutete sofort einen literarischen Bezug und tippte auf Botho Strauß, aber ich hatte eigentlich Erdnüsse in der Hotelbar gemeint. Als ich gestand, versuchte sie ein Lächeln, das aber in Säuernis versank, und betrachtete mich in den nächsten Viertelstunden ganz streng aus einer großen inneren Entfernung. Man könnte es als ein akademisches Trotzschweigen bezeichnen. Weit über diesen beiden „Funkionären“ waltet eine „Big Mother“, eine Company mit unüberschaubaren Töchtern, die in unser Leben per Telefonanweisungen eingreift. Meine Frau und ich erkennen bei diesen Anrufen Stimmen, die identisch sind mit jenen von Kirk Douglas oder John Wayne, und vermuten, dass die Lebenslenkungszentrale Synchronsprecher benutzt, um unerkannt zu bleiben und persönliche Rückfragen zu vermeiden. Meine Frau und ich haben diesen Begriff Lebenslenkungszentrale irgendwann einmal im Zorn ausgestoßen, als dieseLeitstimmen uns vorschrieben, welche Gefühle wir zu äußern hätten. Aber irgendwann haben die da oben uns sehr deutlich klargemacht, dass wir eine Serie seien und wir uns an die Gesetze einer Serie zu halten hätten. Nicht die Kameras vermittelten, wie unser Leben sei, sondern unser Leben habe so zu verlaufen, wie die Serie es vorschreibe. Seitdem leben wir dramaturgisch einwandfrei. Wir haben erkannt: Senioren-Container soll ein 8-Millionn-Publikum finden. Deshalb sollen die Schwierigkeiten des Altwerdens auch ausgespart bleiben. Ermunterung und Abnützungspessimismus sollen sich zu Gunsten des Überlebensoptimismus wirksam bekämpfen. Zur Sprache soll alles kommen, zur Sache aber dürfen wir nicht kommen. Der Sozialminister hat ein Auge auf die Sendung, die Kirche auch. Und so freuen wir uns immer auf das „Wort zum Sonntag“, das von der Werbung gekrönt wird.“
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