Das Buch der Zähren.
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Das Wort vor dem Wort Wenn ich einmal mehr eine Form behaupte, die ich gar nicht streng einhalte, was soll dann ihr Name? Eine Orientierung. Alles muß einen, wenn auch flüchtigen Halt haben, selbst wenn dieser brüchig wird. Ich habe mich in der Vergangenheit bereits an Balladen, Hymnen, Sonetten und weiter an Elegien versucht. Nun nehmen die Oden vorlieb und danach nochmals Elegien? Ja, so scheint es. Das griechische Wort Ode heißt zunächst nichts anderes als Lied, es war Gesang, ohne Endreim und nach strenger Metrik verfaßt. Ich liebe den Stabreim. Insofern waren und sind eigentlich alle meine Gedichte gereimt, also selbst die, welche mit freien Versen daherschweben. Da bin ich weiter ein alter Germane. Typisch für die griechische und lateinische Ode ist das Lob bzw. die Besingung von etwas Konkretem. In meinem Fall zum Beispiel der Preis der Bülbüls (Sperlinge) von Swatow. Swatow, so lautet die alte Schreibung für Shantou, der Hafenstadt in Südwestchina, wo ich seit Jahren zuhause bin. Oder zum Beispiel die Rühmung der Bauhinien, der Orchideenbäume (Bauhinia), launisch verbreitet bis nach Hongkong. Diese werfen üppig ihre farbigen Blätter von sich, so daß man auf den Wegen der paradiesischen Universität Shantou fast über sie steigen muß, um bei Regen nicht auszugleiten. In der chinesischen Literatur mag es für die Besingung der schönen Dinge dieser Welt bereits Vorläufer gegeben haben, denn an den aristokratischen Höfen des Mittelalters (220-960) besangen die Dichter anläßlich von Banketten das Wohl der einzelnen Naturerscheinung. Hierzu scheint die Elegie als Klagelied in einem Gegensatz zu stehen. Ideal und Wirklichkeit fallen bei ihr bekanntlich auseinander. Wir können das ähnlich bei den Liedern des Südens (Chuci) in China sehen. Um 300 v. Chr. beseufzen die Dichter eine Loslösung des Religiösen vom Gesellschaftlichen. Der Philosoph Mo Zi (etwa 479-381) hatte zuvor gemeint, alles Unglück entstehe aus der Vernachlässigung der Götter. Überhaupt soll die Elegie aus Asien nach Griechenland gekommen sein. Auffällig ist jedenfalls die Verwandtschaft der Thematik: Der Wein und der Tod, der Krieg und das Leid, das schwere Grab und des Lebens leichte Kürze. Auch hier spricht man von Friedhofselegien. Doch die sehnlichst erwartete Göttin, ob in Gestalt einer Fee oder in der Form einer Menschin hebt den poetischen Ton. Die Oden haben hauptsächlich die Vogelgärten der Universität Shantou zum Gegenstand, die Elegien verweilen nicht immer bei Wien, der Hauptstadt der Melancholie. Sie folgen der Traurigkeit der Ströme in den Norden und machen sich am Geschick junger Mädchenblüte fest. Ob Drachenfels oder Drachenburg, das Siebengebirge mischte sich begierig ein. So oder so sind die Texte nicht erdacht, sondern zwischen September 2021 und Pfingsten 2022 aus der leidmütigen Geschichte sowie aus der lebhaften Gegenwart entstanden. Damit erklärt sich manch leichte Ironie. Zum ersten Mal folgen die Gesänge chronologisch aufeinander, sind, so traurig wie übermütig, aus jeweils einem Guß. Corona war ihr Hintergrund, ob in Shantou Ende des letzten Jahres oder in Bonn Anfang der Zeitenwende erarbeitet. Jede Strophe verlangte ihre tiefe Nacht vor dem zeitigen Morgen. Wolfgang Kubin, Pfingsten 2022 in Holzlar am Fuße des Ennert