Wandern - verlieren - finden
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Diese Lebenserinnerungen begleiten eine fromme jüdische Gelehrtenfamilie von der Zeit der Hochblüte des deutschen Judentums um 1870 über seinen Untergang hinaus. Die Schweiz und ihre Bildungsstätten sowie ihre jüdische Gemeinschaft spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle. Die Jahre seit 1970 stehen auch im Zeichen des Brückenbaus zur christlichen Welt der Schweiz, Deutschlands und Polens. Warum soll diese Biographie der Öffentlichkeit übergeben werden? Ist der Autor denn so wichtig? Der Autor verneint dies. Verschiedene Umstände haben dazu geführt, dass die Eltern erst spät geheiratet haben; die Mutter war dreissig, der Vater neunundvierzig Jahre alt. Da beide, Vater und Mutter, dem Verfasser reichen Anteil an den Welten ihrer Herkunft gewährt haben, reicht sein Gedächtnis gewissermassen noch ins 19. Jahrhundert zurück. Auch seine wichtigsten Lehrer waren nicht sehr viel jünger (der Doktorvater trug noch Vatermörder), und wenn manche von ihnen auch durch die Zeit zwischen den Weltkriegen geprägt waren, so repräsentieren doch auch sie heute eine Epoche, die als vergangen betrachtet werden muss. Wie war diese Welt, in die er geboren war, die ihn formte? Von Vaterseite die Mentalität frommer galizischer Juden, die strenge Disziplin und weit ausgreifende Gelehrsamkeit der ungarischen Talmudschule, die deutsch-schweizerische höhere Bildung und akademische Schulung in der besonderen Atmosphäre Basels. Mütterlicherseits die Lebenswelt einer westpreussischen Kleinstadt, die strenge Orthodoxie in Verbindung mit restloser Hingabe an die deutsche Wissenschaft (Allgemeinbildung war selbstverständlich), das oft über die Kräfte gehende soziale Engagement. Das konfessionell und politisch zwar neutrale, aber doch eindeutig reformiert (zwinglianisch) geprägte und entsprechend streng geführte Gymnasium mit seiner (zu jener Zeit schon geschwächten) humanistischen Bildung. Die politische Neutralität war rein innerpolitisch zu verstehen; Lehrer und Schüler waren gleichermassen gegen den Nationalsozialismus immun. Natürlich ist das meiste, was der Autor zu berichten hat, nicht archivalisch belegbar; es ist also „oral history“, jüdisch ausgedrückt „mündliche Lehre“, für den wissenschaftlichen Historiker mithin von sehr begrenztem Wert. Aber vielleicht wird doch mancher Nachgeborene den grossen Wandel dieser gut hundert Jahre nicht nur in Politik und Gesellschaft, sondern auch in geistigen und moralischen Werten und Wegen, sie zu vermitteln, nachvollziehen können. Dieses Buch soll eine Autobiographie sein, die gewissermassen ins vorgeburtliche zurückreicht. Wie schon gesagt: Der Autor mag Protagonist sein - aber in seinem Werk wird von vielen anderen Menschen die Rede sein, die Simon Lauer als exemplarisch hat erleben dürfen. Kaum einer von ihnen weilt noch auf Erden; so darf der Verfasser vielleicht „die Lippen der schlafenden bewegen“.