Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums
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Kaum vermag man sich die Zerstörung einer Hochkultur umfassender vorzustellen als jene, die das mykenische Griechenland um die Wende zum 12. Jahrhundert v. Chr. trifft. In der Folgezeit weisen nicht nur die bildenden Künste ein bedrückend niedriges Niveau auf - nein, die Auslöschung ist so radikal, daß selbst die Schrift der Alten verlorengeht. Um so strahlender zeigt sich die Morgenröte der hellenischen Kultur, die mit Homer das Ende der „dunklen Jahrhunderte“ verkündet. Ist auch noch der Stoff von Ilias und Odyssee aus den Mythen und Sagen um die versunkene mykenische Welt herausgesponnen, so sind doch die Farben, in denen die Helden der Epen gemalt sind, und zahlreiche Charakteristika einer bäuerlich-kriegerischen Gesellschaft Reflexe der nachmykenischen Zeit und der beginnenden Epoche der Kolonisation. Hesiod versucht nicht mehr primär an heroische Traditionen anzuknüpfen, sondern schildert die Entstehung der Welt, die Beschaffenheit der in ihr waltenden Kräfte und vor allem die einfachen Wirklichkeiten seines bäuerlichen Lebenskreises. Mit Archilochos hebt die Epoche der Lyrik an, die das Epos ablöst. Aber nicht nur die Form - auch die Inhalte der Dichtung ändern sich. Die Verse verraten eine bisweilen selbstbewußte Individualität ihrer Autoren, zeigen deren Reaktion auf ihre privaten Geschicke und gewähren Einblicke in die Existenzbedingungen, den Aufbau und die Nöte der städtischen Gemeinschaft, der Polisgesellschaft, im archaischen Griechenland. Zugleich entwickeln sich - ausgehend vom ionischen Griechenland - die ersten Ansätze einer rationalen Weltbetrachtung, die kosmische Zusammenhänge ohne mythologische Deutungsmuster und Rückbezüge auf göttliches Eingreifen zu durchdringen sucht. Diese frühe Blütezeit abendländischer Dichtung und Philosophie währt bis ins 5. Jahrhundert v. Chr., wenn die Tragödiendichter und Sokrates neue Wege der Kunst und der Reflexion weisen.