Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe
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„Es bleibt Otto Gross vorbehalten, von der Psychoanalyse ausgehend Schlußfolgerungen auf die > kulturellen Perspektiven der Wissenschaft< explizit zu formulieren. Den Schritt von der individuellen Neurose zum gesellschaftlichen Leid und damit auch zur Kritik an der bestehenden Gesellschaft, hat Otto Gross als erster unternommen.“ Emanuel Hurwitz Die Schriften des Psychoanalytikers und Anarchisten Otto Gross faszinieren noch heute, zielen seine Fragestellungen doch direkt ins Zentrum des menschlichen Erlebens. Beziehung, Sexualität, Ethik, Geschlechterdifferenz, Emanzipation der Frau sind die zentralen Themen, um die das Denken von Otto Gross kreist. Er ist der erste - lange vor Reich, Marcuse, Fromm oder R. D. Laing - der die von Freud errichteten Grenzen der „Psychoanalytischen Bewegung“ überschreitet und die wissenschaftlichen Schlußfolgerungen direkt auf die Gesellschaft anwendet. Der Lebensweg von Otto Gross zeigt eine Linie auf, die weiterhin im Zentrum der gegenwärtigen Diskussion steht: die Frage der sozialen und politischen Ausrichtung der Psychoanalyse und -therapie; die Problematik antiautoritärer Erziehung sowie die Infragestellung patriarchalischer Familien- und Gesellschaftsstrukturen. Von Freud kommt die Warnung: „Wir sind Ärzte, und Ärzte wollen wir auch bleiben!“ Der Vater, der „bekannte Kriminalprofessor Hans Gross“, versucht, den unbotmäßigen Sohn entmündigen und in der Psychatrie internieren zu lassen. Mit Otto Gross verbindet sich nicht nur das Entstehen der Sozialpsychologie, er wurde selbst zum „Fall“, zum Patienten einer kranken Gesellschaft. Otto Gross, 1877 in Österreich geboren, wird Arzt, Psychiater und Analytiker. Bricht mit dem vorgezeichneten Lebensweg, verkehrt in der Boheme und anarchistischen Kreisen. 1913 wird er auf Betreiben des Vaters entmündigt, zeitweilig interniert, schließlich durch eine von Franz Jung initiierte internationale Kampange befreit. Lebt in München, Ascona, Berlin, Wien, Prag und Budapest. Stirbt 1920 unter tragischen Umständen in Berlin.