Die Schlinge
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Mein Name ist Lukas Wolfskehl. Ich bin Teilhaber einer Anwaltskanzlei in Frankfurt/Oder. Tätigkeitsschwerpunkt: Strafverteidigungen. Autoklau, Menschenhandel, Vergewaltigung, Ausländerfeindlichkeit, Drogen, was eben in einer Grenzstadt im Osten so anfällt. Den Fünfzigsten habe ich hinter mir. Seit geraumer Zeit bemerke ich, wie ich älter werde. Unübersehbares Anzeichen dafür ist der Umstand, daß mich selbst die spektakulären Verbrechen in meiner Praxis kaum mehr überraschen. Zuerst der Ungehorsam, dann Kains Brudermord, das ist die Geschichte der Strafsache Mensch. Irgendwann erreicht man den Punkt, an dem alles gleich aussieht und nichts mehr von Bedeutung ist. Medizinische Beweise dafür, daß man gestorben ist, gibt es nicht, aber man verhält sich so. Nur noch selten spiele ich den Gerechtigkeitsapostel. Der Trickser in mir, den es vor gar nicht langer Zeit reizte, mit überfallartigen Ablehnungsgesuchen wegen Besorgnis der Befangenheit gegen einen Richter zu Felde zu ziehen, hat sich zur Ruhe gesetzt. Als ich jünger war, trieb es mich, mir mit den Mandanten die tollsten Schutzbehauptungen auszuknobeln, um die gegen sie erhobene Anklage zu Fall zu bringen; jetzt denke ich öfter mal, daß die Rache der Gesellschaft ruhig ihren Lauf nehmen soll. 'Ein Mann wie Sie', sagt man zu mir. Darüber kann ich mich nur wundern. Meine Mandanten sehen in mir einen Mann in den besten Jahren. Unauffällige Krawatte. Anzug von tadellosem Schnitt. Gediegenes Schuhwerk. Wohlgesetzte Worte. > Erlauben Sie mirOkaysubsumieren< - wenn das alles sein soll, gibt es offenbar nur eins: bloß nicht im Gerichtssaal so alt werden, daß man sich noch wie ein geschundener Klepper herumwiehern hört und über sich selber feixen muß. Claudia, eine alte Freundin von mir, vermutet, daß ich in der Midlife-crisis stecke. Sie kam neulich extra aus Berlin angereist, um mich zu kurieren. Claudia kochte Rotbuschtee mit Rosmarin in unserer Küche, tätschelte meine Hände und massierte mir die Schultern. Sie gab mir die Empfehlung, es mal mit einer anderen Einstellung gegenüber den Mandanten zu probieren. Ihre Lebensweisheit, die sie mir schmackhaft machen wollte, bestand darin, in allen Menschen das Gute und Schöne zu sehen. Um mich zu überzeugen, erzählte Claudia mit einschmeichelnder Stimme eine Geschichte von Jesus. Als dieser mit seinen Jüngern einmal am Wegrand einen schon in Verwesung übergegangenen Hund liegen sah, wandten die Jünger sich von dem häßlichen Anblick ab. Jesus aber blieb stehen und sagte 'Wunderschöne Zähne hat das Tier!' Wo die anderen nur das Häßliche, Abstoßende wahrgenommen hatten, suchte Jesus das Schöne. So sollte ich die Dinge betrachten, sagte Claudia. In jeder Erscheinung das Positive entdecken. 'Du wirst bald merken, daß selbst unter der Hülle eines Verbrechers ein verborgenes Gutes zu finden ist.' Ich hörte ihr zu, sagte aber nichts. In letzter Zeit waren alle unsere Gespräche wie dieses gewesen: rührselig, lächerlich und ungemein unnütz.
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