Sterntaucher
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Es war ein paar Wochen, nachdem sie aus dem Dorf zurückgekommen waren, der Fotograf war nicht mehr dabei. Der Saal war halb leer, denn viele Leute, die sie geliebt hatten, erinnerten sich nicht mehr an die Liebe. Jemand warf eine Coladose, als sie die ersten Zeilen des Sternenliedes sang, und weil es ein langsames Lied war, bei dem nur das Klavier sie begleitete, war das Geräusch auch so laut und häßlich, als die Coladose auf die Bühne flog. Doch niemand protestierte, viele lachten und klatschten, und Katja rief ins Publikum, daß Cola ein schlechter Einfall war, Bier wäre ihr lieber gewesen und der Arsch solle sich das merken; 'wo bist du überhaupt', hatte sie gerufen und die Augen mit einer Hand vor dem Scheinwerferlicht geschützt, 'komm her, du Arsch, ich kann dich nicht sehen.' Er meldete sich aber nicht, und während der Saal zur Hölle wurde, mit diesem Höllengeräusch aus Gelächter und Pfiffen, Schimpfwörtern und Flüchen, hob Katja Kammer oben auf der Bühne den Mittelfinger und ging. Das war ihr letzter richtiger Auftritt gewesen und in der Zeitung hatte gestanden: Kammer kaputt. Manchmal war es ja so, daß Zeitungen logen. Dorian erinnerte sich daran, er erinnerte sich an alles, nur nicht an das Gesicht des Coladosenwerfers. Ein Kopf im Schattenlicht, Schultern, ein Arm; so oft hatte er sich ausgemalt, wie er wohl aussah, doch es war ihm nicht gelungen. Sogar jetzt mußte er wieder an ihn denken, als er den toten Körper im Gras liegen sah, ob nicht der Coladosenwerfer die Schuld daran trug, daß alles so gekommen war. Der Mann ohne Gesicht. Robin und Dorian hatten in der ersten Reihe gesessen und ihr Lied hören wollen, Katjas Lied von den Sternen, und wenn sie es auch an diesem Abend nicht richtig gesungen hatte, so war Dorian doch sicher gewesen, daß sie zurückkehren und es zu Ende singen würde, viele Jahre lang hatte er das geglaubt. Er suchte die Sterne, doch kein Licht drang durch die Zweige der Bäume, ringsum nur Dunkelheit. Es war still. Er atmete kaum. Er kniete auf dem Boden und spürte die warme, feuchte Luft auf seiner Haut, unter seinen Händen Erde und Blätter vom Baum. Langsam kroch er nach vorn, und das Geräusch, das er dabei machte, das Schleifen seiner Schuhe auf dem Boden, war das einzige, was zu hören war. Vor ihm, wie ein Schattenriß, der Stein. Was sonst, es gab nur Steine hier, Steine und Knochen und Erde und Gras, und er tastete nach seiner Taschenlampe, um zu gucken, wer da lag. Grauschwarze Buchstaben unter der Flamme, MARIA. RUHE IN. Er hörte seinen Atem wie ein Keuchen oder Schluchzen, doch war es lange her, seit er geweint hatte, Jahre. Außerdem kannte er die Leute ja nicht, Maria, wer immer das gewesen war, und Paul, ihr lieber Mann daneben, PAUL MEIER-MARTINI. 1941 Auf einem Grabstein sah ein Doppelname noch viel blöder aus. Er sah zurück zum Tor, sah das zuckende Licht des Streifenwagens und hörte Nicole mit dem Mann reden, der sie gerufen hatte, doch hier war er ganz allein. Keine Maria, kein Paul, kein richtiger Mensch mehr auf diesem Fleckchen Erde außer ihm. Er kroch weiter, bis seine Hand die andere Hand berührte, sie war kalt. Erneut nahm er die Taschenlampe und sah etwas Weiches, Dunkles, etwas, das zu fließen und sich wie das letzte Viertel des Mondes über die Erde zu legen schien.
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